The Business of Brand Management
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Wie steht es um die Marke? Beobachtungen eines kritischen älteren Herrn.

Ausgangspunkt dieses Beitrages ist eine Selbstbeobachtung: Man erhält nun das Angebot, «kritisch die Entwicklung von Markenführung und -organisation in der heutigen Zeit» zu kommentieren. Mit stiller Genugtuung oder leichter Resignation wird diese Anfrage mit der Annahme verbunden, dass «etwas ältere Herren … von den derzeitigen Strömungen, Einstellungen nicht wirklich begeistert sein» können.

Daran ist, in meinem Fall, korrekt, dass ich mich jenseits der selbst gewählten Pensionsgrenze tummle, ohne mich notwendigerweise zur gebotenen Ruhe gesetzt zu haben. Eher gehöre ich zu den zornigen alten Männern, die zwar nicht mehr so leidenschaftlich wie mit fünfundzwanzig rebellieren, es aber dennoch immer wieder und wieder immer öfters geniessen können, früher Erlebtes oder aktuell Beobachtetes ohne jegliche Rücksichten radikal kritisch zu reflektieren. Und dies natürlich keinesfalls im Sinne des «früher war alles besser».

Die Jahrzehnte meiner Beteiligung an Markenentwicklungen sowie meine diesbezüglichen Zukunftserwartungen lassen sich ambivalent in drei gegensätzlichen Begriffspaaren zusammenfassen: (i) Über- und unterschätzt, (ii) rituell innovativ und grundlegend kritikunfähig, (iii) auf dem Karrierehöhepunkt und voller Zukunftsangst.


I.

Sicher leidet die Markenwelt nicht unter einem Minderwertigkeitskomplex. Und dies, obwohl ihre Umwelt sie meist sehr kritisch sieht. Wohlmeinende Duldung („es wird schon irgendwie nützlich sein“) und verächtliche Abneigung („Scharlatane, Verpackungskünstler, Geldverschwender“) trüben als Dauerkonflikte und Beziehungsprobleme den Alltag vieler Markenmanager und -wissenschaftler. 

Allerdings: Sowohl die eigene Überschätzung in der Welt der Markenmacher als auch die Unterschätzung von Marken durch die Umwelt überzeugen am Ende keineswegs.

Sicher sind bedeutende eigene Defizite mit dafür verantwortlich, dass das weit verbreitete – grandiose – Selbstbild der Markenmacher sich letztlich wohl als schier unerreichbares Wunschbild entpuppen muss. Zu den Schwächen gehören ein nach wie vor weit verbreiteter geringer Professionalisierungsgrad ebenso wie ein weiterhin lediglich bruchstückhaftes methodisch-theoretisches Fundament. Noch immer prägen Glaubenssätze stark die Argumentation, wenn es um den Nachweis der Wirksamkeit von Marken im allgemeinen und spezifischer Marken-Praktiken geht. Und meist leiden Markenentwickler im akademischen wie vor allem im unternehmerischen Umfeld an ihrer machtpolitischen Schwäche.

Gleichwohl gibt es zahlreiche Gründe, die herrschende Unterschätzung von Marken kritisch zu bewerten. Schon die schieren quantitativen Ausmaße der Markenpräsenz raten zu ernsthafterer Beachtung. Und dann ist es vor allem die Beobachtung, dass das Denken in Markenkategorien mehr und mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfasst, die eine intensivere Begleitung des Markenthemas gebietet. Tatsächlich wollen Gott-und-die-Welt inzwischen zur Marke werden. Es drängt, das Thema Marke aus dem Bermudadreieck der gängigen Vorwürfe – Irrelevanz, Manipulation oder Verschwendung – hervorzuholen und ernsthafter zu untersuchen. 

Die Dynamik kapitalistischer Entwicklung ist zentral davon abhängig, dass die omnipräsente und unaufhebbare Unsicherheit bezogen auf zukünftige Entwicklungen dadurch für die einzelnen Akteure beherrschbar wird, dass immer wieder entsprechende Zukunftsbilder erfolgreich entwickelt werden und sich gesellschaftlich durchsetzen. Sonst droht die Handlungsunfähigkeit. Das gilt nicht zuletzt für Konsumenten. Für sie erzeugen Marken jene Bilder und Narrative, die sie zum Kauf bewegen. Dadurch werden Marken zu einer bedeutenden Produktivkraft in der Wirtschaft und einem tragenden Element moderner Gesellschaften. 

Markenentwicklung muss – müsste – daher zukünftig in deutlich grösserem Ausmass als bisher zum Gegenstand ernsthafter sozialwissenschaftlicher Forschung gemacht werden. Und die Entwicklung von Marken müsste methodisch das Niveau erreichen, das es «verdient» als bedeutende Sozialtechnik in modernen Gesellschaften. Dazu müsste die Disziplin sich ihrer Entwicklungsgeschichte sorgfältiger vergewissern (nicht alles ist immer «total neu»), sich zu eigenen Erkenntnislücken bekennen (oftmals wird ein kausaler Zusammenhang schlicht behauptet), und ernsthafter offen sein für interdisziplinäres Zusammenarbeiten (die schiere Hinzufügung der Silbe «neuro» schafft noch keine robuste Wissensbasis über Vorgänge im menschlichen Gehirn). Eine objektivere Beobachtung der Markenwelt durch Dritte setzt wohl eine deutlich selbstkritischere Betrachtung dieser Welt durch ihre Mitglieder voraus.


II.

Kritisches Denken – im Sinne von Zweifeln am Bestehenden, der Suche nach Alternativen und des Wunsches nach schöpferischer Gestaltung von Neuem – gehört konzeptionell zu den Grundbausteinen der Entwicklung von Marken. Bestehendes kritisch zu hinterfragen und Neuartiges kreativ zu schaffen sind Wesensmerkmale jeder gängigen Selbstbeschreibung von Markenmachern. „Nie war es so gut!“ und „niemand machte es je besser!“ sind gefeierte Schlachtrufe der Markenwissenschaftler (in der Darstellung ihrer Erkenntnisfortschritte) ebenso wie der Markenpraktiker (wenn es darum geht, die Ergebnisse ihrer Arbeit zu preisen).

In diesem Sinne sehen sich Markenmacher sicher überwiegend als „kritische Zeitgenossen“. Und in weiten Kreisen des gesellschaftlichen Umfelds wird die Sozialfigur des Markenverantwortlichen (oder Markenberaters) auch so gesehen. Kritische Verlautbarungen sind allgegenwärtig in der Markenwelt. Kritisches Gebaren und kritische Gesten gehören zweifelsohne zum Habitus des Markenmanagers. Den einschlägigen Diskurs prägen kritische Einwürfe: „total veraltet“, „so doch schon dagewesen“, „oje, Mainstream!“. Die Markenkultur wird immer auch als eine durchaus kritische Kultur gesehen.

Gleichwohl scheinen die zur Schau gestellten Gesten des Kritischen – in der Kultur der Disziplin, ihren Ritualen und im dazugehörigen Habitus – gepaart mit einer minimalen Bereitschaft oder Fähigkeit zu grundlegender, radikaler Kritik, also zur offenen, theoretisch fundierten und systematischen Selbstkritik. Sucht man nach grundlegender Kritik, so ergibt sich für die vergangenen Jahrzehnte der eindeutige Befund: Es geht meist darum, Bestehendes im engeren Tätigkeitsfeld besser zu machen. Und kaum wird jenseits der instrumentellen Vernunft danach gefragt, ob damit auch das Richtige im weiteren Sinne gemacht wird.

Wenn man exklusiv auf den eigenen Sachverstand setzt, gerät leicht das gesellschaftlich Vernünftige aus den Augen. Ist es tatsächlich richtig – oder verantwortungslos – das Denken in Markenkategorien in immer weiteren Gesellschaftsbereichen anzuwenden? Müsste sich – vermeintlich erfolgreiche – Markenentwicklung nicht kritisch fragen, ob angeheizte Konsumwünsche und veränderte Konsumgewohnheiten nicht auch zu gesellschaftlich schädlichen Ergebnissen führen können? Könnten (und sollten) Markenangesichts ihrer Macht – und wenn ja wie – zu nachhaltiger Entwicklung im sozialen und ökonomischen Bereich ebenso wie zum Schutze der Umwelt beitragen? Sollten die Aktivitäten der Markenentwickler nicht intensiver demokratisch diskutiert, politisch reguliert und juristisch verhandelt werden?

Ganz offensichtlich legt der Bedeutungsgewinn der Markenentwicklung in der vermarkteten Welt solch kritisches Hinterfragen sowohl bei Praktikern wie auch bei Wissenschaftlern nahe. Eigentlich.


III.

Es handelt sich beim Thema Marke um eine der prägenden Erfolgsgeschichten unseres Zeitalters. Marken erobern unsere Alltagskultur und setzen sich fest in unserem kollektiven Gedächtnis. Die Marke gehört (eigentlich) zu jenen Begriffen, die in den aktuellen politischen und kulturellen Debatten eine Schlüsselstellung einnehmen (sollten).

Die Karriere des Konzepts Marke ist begleitet von der Professionalisierung des Entwicklungsprozesses von Marken sowie seiner zunehmenden institutionellen Verankerung in Unternehmen und Organisationen. Gleichwohl steht die Erfolgsgeschichte in einem spannungsreichen Verhältnis zur Entwicklung genau dieser organisatorischen Gegebenheiten. Gleiches gilt für den zunehmenden politisch-gesellschaftlichen Widerspruch, den der Erfolg auch hervorruft. 

Die Erfolgsgeschichte von Marken als Werttreiber von Unternehmen und Organisationen hat ihre sprichwörtlichen Kehrseiten. Begleitet ist der ökonomische Bedeutungsgewinn von Marken vom zunehmenden politisch-gesellschaftlichen Druck auf ihre Besitzer. Dies erscheint auch folgerichtig, denn Marken haben totalitäre Eigenschaften. Sie bringen Menschen dazu, etwas zu tun, was sie sonst nicht tun würden. Kaufentscheidungen basieren zu einem (in spezifischen Angebotskategorien mehr oder weniger) wesentlichen Teil auf der Attraktivität der Marke, die man ersteht und mit der man sich umgeben will.

Die zunehmende öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber und die sich intensivierende öffentliche Auseinandersetzung mit dem Handeln von Marken beruhen darauf, dass die Bedeutung und die Macht von Marken immer deutlicher und von immer mehr Menschen gefühlt, gesehen und erlebt werden. Konsumenten nehmen Marken und ihre Versprechen zunehmend beim Wort. Direkter, emotionaler, aggressiver und nachhaltiger als diesen meist lieb ist. Droht hier ein nachhaltiger Gesichtsverlust im öffentlichen Diskurs, eine substantielle Schwächung der Position in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung?

Betrachtet man die innerorganisatorischen Voraussetzungen erfolgreicher Markenentwicklung, dann drängt sich ein paradoxer Schluss auf. Die Erfolgsgeschichte der Marke als Konzept steht im merkwürdigen Widerspruch zur zunehmend misslichen Lage derer, die Marken in Unternehmen, Organisationen und Institutionen entwickeln. Die vom Markenmanagement geforderten Tugenden Mut, Durchsetzungskraft und Zähigkeit erscheinen seltsam unzeitgemäß. Die Erfordernisse erfolgreicher Markenführung widersprechen vielfach und an zentralen Punkten den Gegebenheiten weitgehend bürokratisierter Großorganisation der Gegenwart. Wo Mut und visionäres Denken gefordert wären, herrscht Risikoabsicherung, Sicherheitsdenken, Absicherung durch Marktforschung. Statt machtvoller Durchsetzung bewegender und innovativer Ideen dominiert die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Und nachhaltiges Festhalten und Durchsetzen des einmal strategisch eingeschlagenen Weges scheitert schon an der ständig kürzer werdenden Halbwertszeit des Top Managements und der damit verbundenen Allgegenwart der fast grenzenlosen Begeisterung für das immer Neue.

Damit scheiden moderne Großunternehmen oder Organisationen als Quellen der Entwicklung großer Marken eigentlich aus. Die Geburt mächtiger Marken im Schoße solcher Großbürokratien erscheint höchst unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist schon eher, dass diese Großunternehmen oder Organisationen lediglich die Nutznießer eines in der Vergangenheit aufgebauten Markenguthabens sind und dieses eben mehr oder weniger erfolgreich verwalten. Somit befände sich die Erfolgsgeschichte des Konzepts Marke aktuell in einer Sackgasse. Steht der Karriereknick auf dem Höhepunkt der Karriere bevor?

Unbestritten ist, dass das digitale Zeitalter die Umwelt- und Erfolgsbedingungen des Markenmanagements deutlich verändert und es damit vor große Herausforderungen stellt. Noch kann über die Reichweite des Wandels und seine letztendlichen Konsequenzen nicht abschließend geurteilt werden. Pessimistisch können die digitalen Errungenschaften durchaus als Bedrohung aufgefasst werden. Dann würden die Markenbesitzer die Kontrolle über die Definition und die Entwicklung von Marken, letztlich den Markenbesitz, verlieren. Konsumenten wären die neuen Markenmacher. Optimistischer – aus Sicht der Erfordernisse strategischer, nachhaltiger und wertschöpfender Markenführung – kann das „digitale Springbrett“ aber eben auch die Möglichkeiten des Markenmanagements nochmals erweitern. Die Bedeutung von Marken würde in dieser Perspektive noch zunehmen, ebenso wie die Gestaltungsmöglichkeiten der Markenentwicklung und damit die Macht der Markenmacher in den Unternehmen und Institutionen. 

Der Ausgang dieser Entwicklungen muss aktuell offenbleiben. Technologischer Determinismus – in optimistischer wie in pessimistischer Ausprägung – hilft in keinem Fall weiter. Die weitere Entwicklung der Entwicklung von Marken im digitalen Zeitalter ist umstrittener Gegenstand des öffentlichen Diskurses, alternative Entwicklungspfade sind auch in Unternehmen und Institutionen heftig umkämpft, sein Schicksal noch keinesfalls besiegelt. Also muss abschließend die Frage unbeantwortet bleiben: Wird sich die Erfolgsgeschichte des Markenkonzepts fortsetzen, sich gar noch verstärken, oder befindet sich das Konzept in einer Sackgasse? 

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Ein Beitrag von:
28. Februar 2019

Prof. Dr. Jürgen Häusler ist Honorarprofessor für strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig. Bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 war er Chairman bei Interbrand Central and Eastern Europe, und hat Unternehmen und Organisationen weltweit bei der Entwicklung von Marken beraten. Als Sozialwissenschaftler hat er u.a. am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln gearbeitet.

Kontakt:
juergenghaeusler@gmail.com