Den Autor (Jens Wietschorke) interessiert: «Wo die Moderne erfunden wurde». Und er untersucht zwei Optionen: «Wien – Berlin». So der Titel des 2023 im Reclam-Verlag erschienenen Buches. Zu lesen bekommt die neugierige Markenmacher*in etwas ganz anderes. Sie erfährt Unterhaltsames und Unerwartetes zur Frage, wie Wien und Berlin zu Stadtmarken wurden. Zwei Beobachtungen fallen dabei besonders ins Auge. Erstens, die innige Beziehung zwischen den Städten determiniert immer wieder die Prozesse der Markenentwicklung: «Es ist kein Wien ohne Berlin» (201). Zweitens, die jeweilige Entwicklung zur Stadtmarke kommt weitgehend ohne professionelle Markenmacher*innen aus.
Der erste Punkt ruft wohltuend in Erinnerung, dass der Komparativ die für die Entwicklung starker Marken relevante Steigerungsform ist. Die Grundform (Positiv) genügt nicht: gross zu sein. Und der Superlativ muss nicht unbedingt bemüht werden: die Grösste zu sein. Mit dem Komparativ werden zwei Dinge verglichen. Er verweist darauf, dass diese unterschiedlich sind und eines der beiden besser (oder schlechter) ist. Mit einem Golf ist man zügig unterwegs. Aber im BMW hat man noch mehr Freude am Fahren. Auf Städte bezogen: Wien und Berlin sind beides europäische Metropolen. Sie werden dennoch kaum verwechselt. Der wichtigste Hinweis, um den es Jens Wietschorke geht, ist allerdings der, «dass man mehr über Wien und Berlin erfährt, wenn man beide im Zusammenhang denkt» (9). Davon handelt seine «Tale of Two Cities»: wie die beiden Städte sich (vornehmlich zwischen 1870 und 1930) als Städtepaar entwickeln. Natürlich stehen sie im Wettbewerb miteinander und wetteifern um die bessere öffentliche Wahrnehmung. Dabei beziehen sie sich aber immer wieder aufeinander: «den meisten Städteschilderungen [ist] ein relationales Moment eingeschrieben, ein Blick aus der einen auf die andere Stadt» (24, Hervorhebung im Original). Zwar geht es um die jeweiligen Unterschiede, im Kampf um die Attraktivität beim Zielpublikum profitieren aber beide voneinander. Umstritten ist beispielsweise immer wieder, wer wohl die musikalische Hauptstadt Europas sei. Einigkeit herrscht allerdings darüber, dass es nur eine dieser beiden Städte sein kann. Dieser Städtewettbewerb ist also eher als eine Win-Win-Situation zu begrüssen (und nicht als Zero-Sum-Game zu verdammen). Sicher eine erstrebenswerte Position auch für ‹klassische› Marken: Coca-Cola oder Pepsi, Mercedes oder BMW, Samsung oder Apple, Edeka oder Rewe … und damit immer auch eine bedenkenswerte markenstrategische Variante.
Zweitens lässt der Autor keinen Zweifel an der «Verwandlung [beider Städte] in eine wiedererkennbare Marke» (186) . Die Gesamterzählung lebt von der «wirklichkeitsprägenden Kraft» dieser Stadtmarken: «Die Differenz zwischen Wien und Berlin ist […] vor allem eine empirische Tatsache, eine Tatsache der sozialen Welt» (22f.). Und dies auf Basis einer durchaus paradoxen Grundkonstellation: «Einerseits sind Städte viel zu komplizierte, verworrene, spannungsreiche und widersprüchliche Gebilde, um eine klar ablesbare Individualität haben zu können. […] Und doch darf man sich einbilden, so wie hier sei es nirgends sonst» (27). Den jeweiligen Markenkern (den Begriff nutzt der Autor nicht) offenbaren – jenseits des Wandels im Zeitverlauf – unzählige «Stadterzählungen vom traditionellen Wien und dem geschichtslosen Berlin» (186). An anderer Stelle heisst dies: «In Berlin die Präsenz der Gegenwart, in Wien die Präsenz der Vergangenheit» (204). Bemerkenswert aus Sicht der Markenindustrie ist, dass die gesamte Studie weitgehend ohne die vermeintlich Zuständigen für die Markenentwicklung auskommt. Nur sehr gelegentlich und dann eher am Rande tauchen Werbeverantwortliche und PR-Expert*innen auf. Dagegen dominieren – unter anderen – Architekt*innen, Professor*innen, Schachspieler*innen, Kneipenbetreiber*innen, Komponist*innen, Maler*innen, Kunstkritiker*innen und vor allem Schriftsteller*innen («Großstadtliteratur») immer wieder das städtische Treiben im Wettstreit miteinander. Der Autor ist erstaunt «wie exakt sich die Stadterzählungen» gleichen und konstatiert überzeugend, «dass einige dieser Erzählungen eine zentrale Rolle» bei der Entwicklung der Stadtmarken spielten (186).
Wie eingangs erwähnt: Der Autor ist nicht zentral am Thema «Stadtmarken» interessiert. In der Tat taucht es explizit nur am Rande auf. Und dennoch – so die Bewertung hier – liefert Jens Wietschorke ein sehr kluges Buch zum Thema Markenentwicklung. Dies gilt nicht ‹nur› für Stadtmarken (zu entsprechenden «Handwerksregeln» für Stadtmarkenmacher*innen vgl. Eric Häusler und Jürgen Häusler: Wie Städte zu Marken werden, Springer Gabler-Verlag 2023). Es dürfen darüber hinaus durchaus allgemeine Lehren gezogen werden. Daher das modest proposal an dieser Stelle: Markenmacher*innen, lest vermehrt Bücher, in denen klug über das Thema Marke nachgedacht wird, ohne dass das Wort Marke prominent aussen darauf steht!