Ingenuity that works: Was es braucht, um eine echte Challenger Brand in der Luftfahrt aufzubauen
Ein Gespräch mit dem CEO von Expliseat über Timing, Transformation, und Führung beim Markenaufbau.
Expliseat ist ein echter Pionier – nicht nur in der französischen Industrie, sondern weltweit im Mobilitätssektor. Seit der Gründung 2011 hat das Unternehmen mit dem weltweit leichtesten Flugzeugsitz Aufmerksamkeit erregt – geschützt durch über 100 Patente. Auf der Aircraft Interiors Expo 2025 präsentierte Expliseat seine überarbeitete Strategie und neue Markenidentität. Mit 36 Millionen Euro konnte zudem die bislang größte Finanzierung gesichert werden. Ein klares Signal für den Wandel hin zu einem globalen Industrieakteur. Wir haben mit CEO Amaury Barberot über diese Entwicklung gesprochen – und darüber, welche Rolle Markenführung dabei spielt.
Können Sie unseren Lesern zunächst Expliseat kurz vorstellen? Welches Problem lösen Sie, wer sind Ihre Kunden und was macht Ihren Ansatz im Bereich der Mobilität besonders?
Expliseat verfolgt eine klare Mission: die Dekarbonisierung der Mobilität – durch ultraleichte Sitzlösungen für zukunftsorientierte Mobilitätsanbieter, ohne Kompromisse bei Komfort oder Leistung. Das steigert nicht nur die Nachhaltigkeit, sondern führt auch zu spürbaren Effizienzgewinnen und einer verbesserten Wirtschaftlichkeit für unsere Kunden.
Unsere Technologie macht Sitze in Flugzeugen, Zügen, E-Bussen oder Reisebussen deutlich leichter – und trägt gleichzeitig zur Sicherheit der Passagiere bei.
Im Schnitt reduzieren wir das Gewicht um 30 %. In einem Flugzeug entspricht das rund einer Tonne. Das spart Treibstoff – und CO₂.
Als wir das Unternehmen vor 13 Jahren gegründet haben, waren wir gerade 23 Jahre alt. Wir hatten keine Ahnung, wie man einen Flugzeugsitz konstruiert – und genau das war unser Vorteil. Wir haben mit einem leeren Blatt Papier begonnen. Unser Ziel: den leichtesten Sitz der Welt zu bauen. Dafür setzten wir auf neuartige Materialien – Kohlefaserverbundstoffe und Titan – die damals noch kaum in diesem Bereich genutzt wurden.
Expliseat hatte gewissermaßen zwei Leben – eines vor COVID, eines danach. Vorher waren wir ein Nischenanbieter mit einem ultraleichten Sitz für Airlines, denen Gewichtseinsparung über alles ging – auch wenn das Kompromisse bedeutete. Wir hatten keine eigene Fertigung, waren ein kleines Team mit 30 Leuten und belieferten vor allem kleinere Airlines.
Nach COVID haben wir bewusst umgesteuert. Wir haben ein Teil des Gewichts „eingetauscht“, um einen insgesamt besseren Sitz zu bauen: immer noch leicht, aber bequemer und ansprechender. Damit wurde aus einem Nischenprodukt ein Angebot für den Massenmarkt.
Gleichzeitig haben wir unsere eigene Produktion aufgebaut. Das war ein wichtiges Signal. Wir wollten zeigen, dass wir nicht nur ein kluges Entwicklerteam mit verrückten Ideen, sondern ein industrieller Partner, auf den man bauen kann.
Heute – nur drei Jahre später – sind wir viermal so groß. Und wir arbeiten mit deutlich größeren Kunden zusammen: Air France, Air Canada und weiteren, über die wir bald sprechen dürfen.
"Was ich von einer Marke erwarte? Stolz nach innen. Sicherheit nach außen."
Wenn Sie an Ihre Marke denken – welche Rolle spielt sie für Sie als CEO?
Ich würde sagen: Die Marke ist für mich der zweite Berührungspunkt – direkt nach dem persönlichen Kontakt. In der Regel spricht jemand zuerst mit mir oder jemandem aus unserem Team. Das ist der erste Eindruck. Aber gleich danach kommt der zweite – und das ist die Marke: der Empfangsbereich, die Website, eine E-Mail, LinkedIn, eine Präsentation. All das ist Teil dieses zweiten Eindrucks.
Als CEO ist es natürlich meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass unsere Mitarbeiter Expliseat gut nach außen vertreten. Aber weil die Marke dieser zweite Kontaktpunkt ist, muss auch sie gut über das Unternehmen sprechen – und für mich bedeutet das: Sie muss zwei Dinge leisten, nämlich Stolz nach innen und Sicherheit nach außen.
Nach innen möchte ich, dass die Menschen stolz darauf sind, bei Expliseat zu arbeiten. Stolz, sagen zu können: „Ich bin Teil dieses Unternehmens.“ Das ist extrem wichtig. Und nach außen – gerade weil wir ein Herausforderer in einem sehr etablierten Markt sind – denken viele: „Wenn die das können, warum haben es die Großen nicht längst gemacht?“ Diese Skepsis ist real.
Deshalb muss die Marke auch Vertrauen schaffen. Sie muss zeigen: Das hier ist seriös. Das hat Substanz. Das ist solide. Genau das ist es, was ich von einer Marke erwarte: Stolz nach innen und Sicherheit nach außen.
Es gab einen Moment, vielleicht vor zwei Jahren, als Sie beschlossen, dem Rebranding Priorität einzuräumen. Was war der Auslöser dafür?
Diese Erkenntnis kam ungefähr ein Jahr vor dem Start – genau genommen auf der Aircraft Interiors Expo 2023, wo wir uns ja auch getroffen haben. Das Unternehmen hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits spürbar weiterentwickelt. Wir waren dabei, uns aus der Nische herauszubewegen. Unser Produktportfolio hatte sich verändert. Unsere Kundenstruktur ebenfalls. Aber die Leute sprachen immer noch vom alten Expliseat – sie bezogen sich auf unser Produkt von 2014 oder darauf, wie wir vor COVID waren. Und ehrlich gesagt, hatte ich davon irgendwann genug. Ich dachte mir: Wie können sie nicht sehen, dass wir uns verändert haben?
Und dann wurde mir klar, warum: Von außen hatte sich nichts verändert. Das gleiche Logo. Der gleiche Look. Die gleiche Markenidentität. Und da sah ich das Problem: Wir hatten uns im Inneren längst gewandelt – aber nach außen war das nicht sichtbar. Deshalb hielten uns viele weiterhin für das, was wir mal waren.
Ich glaube, bei manchen Unternehmen ist es genau umgekehrt: Sie verändern das Äußere, aber im Inneren bleibt alles beim Alten. Bei uns war es andersherum – der Wandel hatte im Kern stattgefunden. Und wir brauchten nun die Oberfläche, die das auch zeigt. Deshalb habe ich gesagt: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Wir müssen die Marke aktualisieren, damit sie widerspiegelt, wer wir geworden sind.
Was haben Sie während des Prozesses gelernt, das Sie überrascht hat?
Was mich wirklich überrascht hat, war die Vielzahl an Berührungspunkten, über die eine Marke entsteht. Am Anfang dachte ich: Branding – das ist doch Logo, vielleicht noch der Name, ein paar Farben, und das war’s. Aber es geht viel tiefer.
Zur Marke gehören auch Dinge wie das Produktfinish, die Verarbeitung, das Materialgefühl. Wie sich etwas anfühlt. Wie es klingt, wenn sich eine Tür schließt. In manchen Branchen ist sogar der Geruch ein Bestandteil der Marke. Wir sind nicht so weit gegangen, aber ich fand es spannend zu sehen, wie weit man da denken kann.
Und selbst heute entdecken wir da noch neue Dimensionen. Zum Beispiel überlegen wir, wie sich das Design des Sitzes, die Verkleidung, die Materialwahl und die Haptik stärker mit der Marke verbinden lassen. Am Anfang war mir das nicht so bewusst. Aber heute ist mir klar: Das alles ist Teil des Markenerlebnisses – und das muss man bewusst gestalten.
Wie haben Sie die frühe strategische Phase erlebt? Der Teil, in dem wir verschiedene Narrative exploriert haben?
Ehrlich gesagt war das nicht der einfachste Teil. Erstens, weil ich gerade frisch zum CEO ernannt worden war – ich hatte diese Rolle vorher noch nie innegehabt. Und zweitens, weil es noch direkt nach COVID war. Unsere Strategie war zu dem Zeitpunkt noch nicht voll ausgereift. Es gab verschiedene Optionen, verschiedene mögliche Wege.
Ich war also selbst noch dabei herauszufinden: Wo wollen wir als Unternehmen eigentlich hin? Und wie können wir das klar formulieren? Was mir dabei sehr geholfen hat, war der Moment, als Sie mit zwei unterschiedlichen Narrativen zurückkamen – zwei strategische Ansätze, basierend auf denselben Inputs, die ich Ihnen gegeben hatte. Das hat mir den Blick geöffnet.
Denn wenn man nur eine einzige Version sieht, fällt es schwer, Alternativen zu erkennen. Aber wenn man zwei hat, kann man abwägen: Welche passt besser? Welche Konsequenzen bringt jede mit sich? Ich fand es extrem hilfreich, zu sehen, wie sich dieselbe Geschichte unterschiedlich erzählen lässt. Das hat die Entscheidung viel klarer gemacht.
"Die Marke muss nicht passiv sein. Sie kann das Unternehmen aktiv vorantreiben. Und das ist eine enorme Kraft."
Wenn Sie mit einem anderen CEO sprechen würden, der ein Rebranding erwägt, was würden Sie weitergeben?
Zu Beginn habe ich Marke eher als etwas Passives gesehen. Etwas, das dem Unternehmen folgt. Die Marke war für mich eher ein Spiegel – sie sollte abbilden, wer wir sind. Aber im Laufe des Prozesses wurde mir klar: Die Marke kann auch vorausgehen. Sie kann den Weg weisen.
Branding geht nicht nur darum, zu zeigen, wer man gerade ist. Es kann auch helfen, zu formulieren, wer man werden will. Die Marke bietet Orientierung – für die Organisation, für Mitarbeitende, für Kund*innen. Sie schafft einen Referenzpunkt, an dem man sich ausrichten kann.
Deshalb denke ich heute anders darüber. Die Marke muss nicht passiv sein. Sie kann das Unternehmen aktiv vorantreiben. Und das ist eine enorme Kraft.
Wie haben Sie Ihr Team auf diese neue Richtung eingeschworen?
Überraschenderweise war es keine reine Führungsübung. Uns war wichtig, dass es kein Top-down-Prozess wird. Wir haben bewusst versucht, das gesamte Unternehmen einzubinden. Sie wissen das – wir haben Workshops nicht nur mit dem Führungsteam gemacht, sondern auch mit Kolleg:innen aus Technik, Vertrieb, neuen Geschäftsbereichen… aus ganz unterschiedlichen Funktionen.
Es ging nicht darum, dass CEO, CMO und CFO sich allein hinsetzen und die Marke definieren. Es ging darum, gemeinsam etwas zu entwickeln, hinter dem alle stehen können. Und wenn das gelingt, entsteht ein starkes Gefühl der Verantwortung – und auch Stolz. Beides ist enorm wichtig.
"Ich denke, die neue Marke hat eine große Rolle gespielt. Sie hat uns geholfen, den Spiegel zu durchbrechen. Vorher haben alle nur das alte Unternehmen gesehen - jetzt sehen sie das Unternehmen, das wir heute sind."
Haben Sie seit dem Rebranding irgendwelche Veränderungen festgestellt, intern oder extern?
Ja, ganz klar. Ein konkretes Beispiel ist der US-Markt. Lange Zeit schien der für uns unerreichbar. Er wird dominiert von drei großen Airlines – United, Delta, American – und einigen weiteren. Wir hatten immer das Gefühl: Das ist zu weit weg, zu groß, zu schwierig.
Aber heute ändert sich das. Die Leute sagen: „Wir nehmen Expliseat plötzlich anders wahr.“ Und ich glaube, die neue Marke hat dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Sie hat uns geholfen, den Spiegel zu durchbrechen. Vorher haben alle nur das alte Unternehmen gesehen – jetzt sehen sie das Unternehmen, das wir heute sind.
Das ist ein riesiger Unterschied. Und ich hoffe, dass sich das bald auch in einem neuen Vertrag niederschlägt.
Außerdem haben Sie gerade eine der größten Finanzierungsrunden in der Geschichte des Unternehmens abgeschlossen. Hat das Rebranding bei Gesprächen mit Investoren geholfen?
Es hat natürlich niemand gesagt: „Ich investiere wegen Ihrer neuen Marke.“ So funktioniert das nicht. Aber Investoren sind sehr sensibel für Themen wie ESG, Mitarbeiterbindung oder Unternehmensmission. Und unsere neue Marke war ein starkes Signal – ein sichtbares Zeichen dafür, dass wir in all diese Bereiche bewusst investieren.
Viele unserer Investoren sind keine Luftfahrtexperten. Sie können also unser Produkt nicht im technischen Detail beurteilen. Aber sie spüren, ob wir es mit der Zukunft ernst meinen. Ob wir intern gut ausgerichtet sind. Ob es eine klare Mission gibt. Und genau das konnten wir mit der neuen Marke zeigen. Das wurde sehr geschätzt.
Wenn Sie in die Zukunft blicken, was sind die größten Herausforderungen, die Sie jetzt sehen?
Unser neues Versprechen lautet: Ingenuity that works. Und das ist spannend. Es eröffnet ganz neue Möglichkeiten im Vergleich zu unserem alten Slogan „Der leichteste Flugzeugsitz der Welt“. Der war zwar sehr konkret – aber auch ziemlich einengend. Die neue Botschaft ist ambitionierter.
Aber sie ist auch fordernder. That works heißt: Wir müssen liefern. Der Anspruch ist, dass unsere Genialität nicht im Konzept endet, sondern in der Umsetzung funktioniert. Und irgendwann wird es natürlich Situationen geben, in denen etwas nicht wie geplant läuft. Dann stellt sich die Frage: Was bedeutet unser Versprechen in schwierigen Momenten? Wie bleiben wir ihm trotzdem treu?
Die zweite große Herausforderung ist Konsistenz. Eine Marke funktioniert nur, wenn sie überall im Unternehmen konsistent gelebt wird. Und das wird mit dem Wachstum anspruchsvoller. Ich mache mir manchmal Sorgen, dass die Marke in verschiedene Richtungen interpretiert wird, wenn wir sie nicht konsequent führen. Wir müssen sehr klar bleiben – und gleichzeitig dafür sorgen, dass sich die Marke weiterentwickeln kann. Aber eben kontrolliert und nicht beliebig.
Wer ist Ihrer Meinung nach im Unternehmen für den Schutz der Marke verantwortlich?
Wir brauchen jemanden, der die Rolle des „Bad Cops“ übernimmt – der sagt: „Das ist unsere Marke. Bitte daran halten.“ Denn Konsistenz ist entscheidend.
Aber genauso brauchen wir den „Good Cop“ – der die Marke weiterentwickelt, offen bleibt für neue Impulse, sie lebendig hält.
Am Ende ist es eine geteilte Verantwortung. Nicht nur CEO oder CMO. Alle im Unternehmen müssen einen Teil dazu beitragen – sowohl in der Disziplin, die Linie zu halten, als auch im Mut, die Marke weiterzudenken.
Gibt es einen Teil der neuen Marke, mit dem Sie sich persönlich am meisten identifizieren?
Wahrscheinlich das Logo. Ich bin seit den Anfängen dabei – seit 13 Jahren. Und während all dieser Zeit war der Kolibri unser Symbol. Dieser kleine Vogel war mir sehr ans Herz gewachsen. Deshalb fiel es mir anfangs auch schwer, ihn loszulassen.
Ich habe mir also genau überlegt, was an seine Stelle treten kann. Es war mir wichtig, dass das neue Symbol Substanz hat. Und ich denke, wir haben die richtige Entscheidung getroffen. Die drei Linien im neuen Logo – sie fühlen sich einfach richtig an. Ich ertappe mich manchmal sogar dabei, wie ich versuche, sie mit den Fingern nachzuformen.
Das ist für mich ein gutes Zeichen: Es ist ein Symbol geworden, mit dem ich mich identifizieren kann. Und das war mir persönlich sehr wichtig.
Irgendwelche abschließenden Gedanken?
Ja. Etwas, das mich in letzter Zeit sehr beschäftigt, ist die Frage, wie wir unsere Marke stärker im Produktdesign verankern können. Eine Website oder eine Präsentationsvorlage zu aktualisieren – das ist relativ schnell gemacht. Aber das Produkt selbst so zu gestalten, dass es die Markenidentität in Form, Material und Detail sichtbar macht – das dauert.
Aber genau das ist entscheidend. Die Arbeit an der Marke ist für mich erst dann wirklich abgeschlossen, wenn sich unsere Sitze, ihr Design, ihre Haptik, ihre Materialien nahtlos in die Sprache der Marke einfügen.
Das ist unser nächster großer Schritt.
"Ingenuity that works. Das sagt alles."
Lassen Sie uns mit einer kurzen Frage abschließen. Was ist eine Marke, in einem Wort?
Ein Leuchtturm. Oder vielleicht eine Institution. Aber Leuchtturm gefällt mir besser. Etwas, das Orientierung bietet. Das anderen den Weg weist. Das Menschen hilft, sich zu orientieren – und das für sich spricht.
Und Expliseat in ein paar Worten?
Ingenuity that works. Das sagt eigentlich alles. Wir sind nicht mehr das Unternehmen, das wir einmal waren. Wir sind gewachsen, haben uns weiterentwickelt. Aber unser Kern ist gleich geblieben: Wir wollen Grenzen verschieben – und Lösungen schaffen, die wirklich funktionieren. Darum geht es.
Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Offenheit - und dafür, dass Sie uns eine so wertvolle Perspektive auf die Rolle der Marke bei der Entwicklung eines Unternehmens vermittelt haben. Ich wünsche Ihnen und dem gesamten Expliseat-Team alles Gute für den weiteren Aufbau einer echten Challenger Brand im Mobilitätssektor.
Vielen Dank für die tolle Diskussion. Alles Gute auch für Sie.
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