Intuition. Identität. Impact: Über die Kraft von Industrial Design
Ein Gespräch mit Andrea Mocellin über Gestaltung, Mobilität
und die strategische Rolle von Intuition.
Andrea Mocellin gestaltet nicht einfach nur Objekte – er gestaltet, wie wir uns bewegen, interagieren und fühlen. Von Hypercars über faltbare Rollstühle bis hin zu ultraleichten Flugzeugsitzen vereinen seine Arbeiten Technik und Emotion, Disziplin und Intuition. Doch hinter Form und Funktion steckt etwas Tieferes: Identität. In diesem Gespräch teilt Andrea seine Sicht auf Industrial Design als eines der am meisten unterschätzten Werkzeuge im Markenaufbau – und erklärt, warum jede Geschäftsführung sich dafür interessieren sollte.
Andrea, danke für deine Zeit. Lass uns mit einer einfachen Frage starten: Gibt es etwas in deinem Alltag, das du für besonders gut designt hältst?
Ganz klar: mein Laptop. Klingt vielleicht banal, aber als unabhängiger Designer ist Flexibilität alles. Ich muss jederzeit und überall arbeiten können. Und der Laptop ist mein zentrales Werkzeug – zum Entwerfen, Präsentieren, Kommunizieren. Egal ob im Studio, im Flugzeug oder beim Kunden.
Ich investiere bewusst in das leichteste, leistungsstärkste Gerät, das ich finden kann. Zurzeit arbeite ich mit einem 13-Zoll-MacBook Pro – und bin jedes Mal aufs Neue beeindruckt, wie viel Power in so einem kompakten Format steckt. Diese Autonomie ist für mich unverzichtbar.
Du lebst mittlerweile in München, bist aber viel unterwegs. Hat sich dein Blick auf Räume – zum Beispiel ein Hotelzimmer oder die Kabine eines Flugzeugs – durch dein Designverständnis verändert?
Absolut. Wenn man viel reist, schaltet man irgendwann auf Autopilot – man weiß, wo es Kaffee gibt, wann Boarding ist. Aber das wirklich Wertvolle passiert im Unbekannten. Dieser Moment, wenn du einen neuen Raum betrittst und dich neu orientieren musst – der schärft deine Wahrnehmung.Man achtet auf Details – Licht, Materialien, Anordnung – und genau diese Beobachtungen fließen direkt in die Arbeit ein. Gerade im Bereich Mobilität gilt: Je mehr du reist, desto besser wirst du. Denn du erlebst direkt, was funktioniert – und was nicht. Jede kleine Irritation oder positive Überraschung ist ein wertvoller Datenpunkt. Gelebte Erfahrung macht Design menschlich.
Du hast an ganz unterschiedlichen Produkten gearbeitet – vom Hypercar bis zum Rollstuhl. Gibt es eine übergeordnete Philosophie, die deine Arbeit leitet?
YJa. Für mich geht es immer um Bewegung – und darum, wie Bewegung unsere Erfahrung prägt. Ich war schon immer fasziniert davon, wie Produkte beeinflussen, wie wir uns bewegen und wie wir uns dabei fühlen.
Schon als Kind habe ich nicht nur Autos gezeichnet. Ich habe Marken erfunden, Slogans geschrieben, Logos entworfen – das ganze System. Diese Verbindung zwischen Produkt und Identität war schon immer da.Für mich ist Mobilität kein Sektor, sondern eine Denkweise. Ob Flugzeug, Auto oder Rollstuhl – das Ziel ist dasselbe: Menschen sicher, sinnvoll und mit Stil in Bewegung zu bringen.
"Mobilität ist kein Sektor – es ist eine Denkweise."
Wo entstehen deine besten Ideen? Gibt es einen Ort oder Moment, in dem du besonders kreativ bist?
Ironischerweise nicht im Studio. Das Studio ist der Ort zum Umsetzen – dort passieren die NDA-geführten Projekte. Aber die Ideen? Die kommen, wenn ich unterwegs bin. Im Flugzeug, im Hotel, auf einem Spaziergang durch eine fremde Stadt.Oft schicke ich mir selbst drei Mails hintereinander, damit ich nichts vergesse. Ein Moment des Stolperns, eine zufällige Begegnung – das sind die Impulse. Später werden sie dann zu Produkten. Aber der erste Funke entsteht meist außerhalb der eigenen Bubble.
Du hast Flugzeugsitze, Rollstühle und Supersportwagen entwickelt – mit sehr unterschiedlichen Anforderungen. Welches Projekt war am herausforderndsten?
Zwei Projekte fallen mir ein. Das erste ist Lilium, das elektrische Senkrechtstart-Flugzeug. Ein kompletter Wechsel vom Automobilbereich. Neue Regularien, neue Aerodynamik, andere Sicherheitsanforderungen – es war, als müsste ich eine neue Sprache lernen.Das zweite war Revolve Air, mein eigenes Start-up. Wir haben den weltweit ersten faltbaren Rollstuhl mit großen Rädern entwickelt. Ich bin selbst kein Rollstuhlnutzer – also musste ich bei null anfangen. Ergonomie, Nutzerverhalten, Mobilitätsbedürfnisse. Ich dachte, das sei ein einfaches Designproblem. Aber es war extrem komplex. Und zutiefst menschlich.
"Ich dachte, einen Rollstuhl zu entwerfen sei einfach. Ich lag falsch."
Wie entstand die Idee für Revolve Air?
Ehrlich gesagt: Aus Neugier. Ich arbeitete damals für einen großen OEM und verspürte den Wunsch, etwas Eigenes zu erfinden. Ich begann mit einem faltbaren Rad – und wollte einfach wissen, wie man ein Patent anmeldet.
Aber dann habe ich gemerkt, wie sehr die Idee bei Menschen ankommt. Veteranen meldeten sich, Pflegerinnen, Nutzerinnen. Der Bedarf war real. Heute – fast zehn Jahre später – haben wir einen langfristigen Produktionsvertrag in Indien unterzeichnet. Das Produkt soll dort und in Afrika skaliert werden. Es war ein langer, harter Weg. Aber einer, der sich gelohnt hat.
Du hast auch ein Fahrrad mit derselben faltbaren Radtechnologie gezeigt. War das von Anfang an Teil der Vision?
Ja. Meine Idee war, so etwas wie das Brompton der nächsten Generation zu bauen – ein Faltrad mit großen Rädern. Aber die Belastung im Fahrradbereich – Geschwindigkeit, Schläge, Materialbeanspruchung – war zu hoch, um etwas wirklich Zuverlässiges und Bezahlbares zu schaffen.
Also habe ich den Fokus geändert. Bei Rollstühlen ist die Wirkung klarer. Man kann damit das Leben von Menschen direkt verändern. Ihnen den Zugang zurückgeben – zum Auto, zum Flugzeug, zum Hotelzimmer. Das fühlte sich dringlicher an.
Man hört oft vom „ungenutzten Potenzial von Industrial Design“. Würdest du das so unterschreiben?
Definitiv. Ich treffe oft auf Unternehmen, die einen „Industrial Designer“ suchen – aber eigentlich gar nicht wissen, was das ist. Sie stellen sich jemanden vor, der den ganzen Tag Formen skizziert. Aber echtes Industrial Design ist zutiefst strategisch. Es verbindet Technik, Nutzererfahrung, Fertigung, Kosten – und Storytelling.Gerade in Unternehmen ohne Designkultur beginnt der Prozess oft mit Aufklärung. Sie müssen erst verstehen, wie viel Einfluss Gestaltung hat. Design ist keine Dekoration. Es ist Entscheidungsfindung.
"Design bedeutet nicht, schöne Formen zu zeichnen. Es geht um Entscheidungen."
Was ist für dich das perfekte Briefing? Worauf achtest du bei einem neuen Projekt?
Klarheit über das Ziel. Wenn ein Kunde weiß, welches Problem er lösen will – nicht wie, sondern was genau – dann fließt das Projekt fast von selbst. Wenn das fehlt, wird es chaotisch. Jede Woche eine neue Richtung. Keine Konsistenz. Ich versuche auch, möglichst früh mit der Geschäftsführung zu sprechen. Nicht um alles zu kontrollieren – sondern um die Vision zu verstehen. Wenn die Entscheider nicht eingebunden sind, wird die Geschichte durch viele Ebenen gefiltert. Und verliert ihre Richtung.
Du hast mal gesagt, die Fähigkeit „Nein“ zu sagen sei entscheidend. Warum?
Weil ich als Unabhängiger gelernt habe, Projekte auch abzulehnen – selbst wenn sie gut bezahlt sind. Ich schaue mir die Gründer*innen an, das Team, das Geschäftsmodell. Ist das real? Hat es Zukunft?
Am Ende ist dein Portfolio dein Kapital. Du willst deine Zeit nicht in etwas investieren, das nur auf dem Papier existiert.
Welche Rolle spielt Branding in deiner Arbeit?
Ich habe Branding erst wirklich verstanden, als ich bei NIO gearbeitet habe – dem Elektroautohersteller. Damals war die Markenidentität noch in Entwicklung. Aber Kris Tomasson, der VP, kam von Coca-Cola – und seine Klarheit, was Marke bedeutet, war beeindruckend. Es ging nicht nur ums Auto. Es ging um das gesamte Ökosystem: wie du lädst, wie du buchst, wie du dich fühlst. Alles war Teil einer Geschichte.
Seitdem weiß ich, wie entscheidend Markenarbeit ist. Du kannst ein brillantes Produkt bauen – aber ohne Marke fehlt der Kontext. Mit einer starken Marke landet es. Es bekommt Bedeutung. Konsistenz.
Deshalb hat mir auch das Projekt mit Expliseat so gefallen. Der neue Sitz steht nicht für sich. Er spricht dieselbe Sprache wie die visuelle Identität. Diese Übereinstimmung – visuell, materiell, strategisch – macht den Unterschied.
Wie verändert KI deine Arbeitsweise?
Sie hilft beim Visualisieren – nicht beim Entwickeln. Besonders bei Kunden, die keine Skizzen lesen können, ist KI nützlich. Man kann eine Stimmung, ein Szenario schneller darstellen.Aber echtes Produktdenken braucht Menschen. KI zieht aus der Vergangenheit. Designer entwerfen die Zukunft. Manchmal zeige ich Kunden eine KI-Version – und danach meine eigene – um den Unterschied deutlich zu machen. Das sorgt oft für gute Gespräche.
"Freelancer verbringen viel Zeit allein. Es wird Zeit, neue Formen der Zusammenarbeit zu schaffen."
Zusammenarbeit wird im Design oft als zentral dargestellt. Stimmt das für dich?
In der Theorie ja – in der Praxis nicht immer. Ich liebe die Idee von Kollektiven. Studios, in denen Designer, Strategen, Ingenieurinnen gemeinsam arbeiten. Aber das ist selten.
Freelancer arbeiten oft isoliert. Und Unternehmen denken in Wellen: Erst Branding, dann Technik, dann Design. Dabei wäre es viel effizienter, all das von Anfang an zu verzahnen.
Gibt es ein Wunschprojekt oder einen Traumkunden, den du noch nicht hattest?
Robotik. Ich glaube, dort entsteht der nächste große Wandel – nicht bei Autos oder Flugzeugen, sondern bei Möbeln, Home Robots, Tools, die unseren Alltag unterstützen und uns mehr Zeit schenken.Ich arbeite bereits an einigen Projekten in dem Bereich – unabhängig, nicht im Auftrag. Aber ich würde gerne noch tiefer einsteigen. Weil das Feld noch offen ist. Man kann wirklich mitgestalten, wie die Zukunft aussieht.
"Wir gestalten nicht nur Objekte.Wir gestalten Zeit."
Abschließend: Welche Rolle spielt Design in all dem? Wohin entwickelt es sich?
Design sollte das Leben verbessern. Nicht nur ästhetisch oder funktional – sondern auch im Sinne von Wohlbefinden. Wir leben in einer Zeit, die schnell, stressig, fragmentiert ist. Gutes Design kann Balance zurückbringen.
Egal ob Sitz, Rollstuhl oder Roboter – das Ziel ist dasselbe: Menschen helfen, sich besser zu bewegen, besser zu leben, sich besser zu fühlen.
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