The Business of Brand Management
A Modest Proposal Library

Experten auf dünnem Eis.

Jürgen Häusler kommentiert

Expert*innen stehen in diesen Tagen wohl so intensiv wie selten zuvor im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Sie sind mit ihren Meinungen allgegenwärtig. Ihre Macht scheint beachtlich. Ihr Wissen grenzenlos. Allerdings tritt mit dem Ruhm auch die Kehrseite der Medaille ans Licht, insbesondere die Grenzen ihres Wissens und die fehlende Legitimation ihres Einflusses. Paradoxer- oder logischerweise setzt gerade ihre erhöhte öffentliche Präsenz die Expert*innen intensiver der (längst nicht immer sachgerechten) Kritik aus.
 

Dies gilt aktuell für Virolog*innen. Für Expert*innen im Marketing scheinen derartige Mechanismen der (selbst)kritischen Reflexion komplett ausser Kraft gesetzt zu sein. Es fängt schon damit an, dass die Zugehörigkeit zum Kreis der Expert*innen offen für Alle ist. Und die jeweilige Expertise wird regelmässig sinnverdreht begründet: äusserte sich jemand in der Vergangenheit zu einem Thema (in Vorträgen, Büchern, Interviews), so handelt es sich offensichtlich um eine Expert*in. Direkt verknüpft damit ist die unbegrenzte Reichweite der Expertise: betreten Expert*innen die zahlreichen Bühnen, die sich ihnen bieten, dann können sie sich auch über alle denkbaren Themen äussern.
 

So existiert inzwischen eine unübersehbare Anzahl an Expertisen zum prominenten Einsatz der Farbe Magenta durch die Deutsche Telekom. Zuletzt in HORIZONT (https://www.horizont.net/marketing/talkingheads/eine-frage-der-tarnfarbentechnik-warum-sich-die-telekom-mit-ihrem-neuenbrand-design-auf-duennes-eis-begibt-185715). Dort wird vom Markenexperten mit dem Genie, das dem Wahnsinn verfällt, argumentiert: Einst war diese Farbentscheidung wohl ein «brillianter visueller Schachzug», heute schwächen die Verantwortlichen «den eigenen Markenauftritt massiv».
 

Natürlich ist dies eine denkbare Beobachtung und eine mögliche Einschätzung. Immer wieder scheitern Marken nicht am zunehmenden Wettbewerb, sondern an internen Schwächen. Im vorliegenden Fall handelt es sich um ein sehr eindeutiges und schroffes Urteil, das – in der Welt des Marketing – Aufmerksamkeit sichert und den wahren Experten offenbart: «Warum sich die Telekom mit ihrem neuen Brand Design auf dünnes Eis begibt».
 

Allerdings steht der Experte offensichtlich vor allem selbst auf sehr dünnem Eis:

Seine kritischen Ausführungen basieren auf nicht sehr viel mehr als auf den ersten Verlautbarungen des Unternehmens und dem oberflächlichen Augenschein von beispielhaften Teilelementen des neuen Auftritts. Eine Hintergrundrecherche erfolgte ganz offensichtlich nicht. Einen Gedankenaustausch mit den Verantwortlichen gab es sicher auch nicht. Warum auch? Dies hätte sicher Zeit benötigt und die Dinge womöglich komplexer werden lassen.

Der kommentierte Farbeinsatz weist inzwischen eine dreissigjährige Geschichte auf. Die Einführung und Durchsetzung der Farbe – intern wie extern, kommunikativ wie markenrechtlich – weist nicht vorrangig Züge des Geniestreichs aus. Ihr Erfolg ist das Ergebnis des langjährigen Zusammenspiels strategischer Weitsicht, gestalterischer (auch markenrechtlicher) Kreativität sowie mutiger und machtvoller unternehmenspolitischer Auseinandersetzungen und Entscheidungen. Nichts davon lässt der Markenexperte auch nur erahnen, wenn er als «Basiserkenntnis(se) der Wahrnehmungspsychologie» die (falsche, man denke an Kontraste) These verkündet, dass «eine Farbe zwei, drei oder mehrere Farben» schlage.

Eine dem Gegenstand angemessene strategische Tiefe und Breite der kritischen Auseinandersetzung wird im Beitrag nicht ersichtlich. Natürlich erkennt der Markenexperte zu Recht die Bedeutung visueller Elemente für den Erfolg von Marken. Aber wenn er den Leser*innen helfen will, «besser zu verstehen, worum es geht», beweist er letztlich nur sehr eindringlich, dass nicht alles, was hinkt, ein Vergleich ist (Karl Kraus). Die Marktführerschaft von McDonald’s (gegenüber Burger King) schreibt er «wesentlich» der Sichtbarkeit der jeweiligen Logos der Kontrahenten zu. Sein Argument: einfach(er) schlägt komplex(er). Offensichtlich ignoriert er mit diesen formelhaften Formulierungen und simplifizierten Gedankengängen jede Art von Komplexität, die zum Alltag (strategisch, politisch, handwerklich) jeder Markenmacher*in natürlich gehört.

Im Ergebnis bricht vor allem der Experte auf allzu dünnem Eis ein. Auch im Eigeninteresse der viel zu zahlreichen Markenexpert*innen daher mein zweiteiliges modest proposal. Zunächst: weniger kann mehr sein. Weniger öffentlich vorgetragene Kritiken an der seriösen Arbeit von Marketing-Kolleg*innen erhöhen die Chancen der gesamten Marketingwelt, ernst(er) genommen zu werden. Und: bitte nur so einfach wie möglich. Nicht einfacher (Albert Einstein). Nur falsche Expert*innen können darauf verzichten: hinreichend Hintergrund- und Kontextwissen, angemessene Komplexität in der Behandlung des Gegenstandes, Demut gegenüber den Herausforderungen und Unsicherheiten des Handwerks des Markenmachens und Respekt gegenüber den Markenmacher*innen.

Ein Beitrag von:
15. September 2020

Über den Autor:

Prof. Dr. Jürgen Häusler ist Honorarprofessor für strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig. Bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 war er Chairman bei Interbrand Central and Eastern Europe, und hat Unternehmen und Organisationen weltweit bei der Entwicklung von Marken beraten. Als Sozialwissenschaftler hat er u.a. am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln gearbeitet.

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