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Im Epizentrum der Pandemie: «65+» unter Vermarktungszwang.

Mir geht es gut. Sehr gut sogar. Und ich bin wohlgemut, freue mich auf die Zukunft. Ich geniesse (meine) Privilegien. Gleichzeitig erzürnen mich die Ungerechtigkeiten, die diese Welt vielleicht mehr denn je verschandeln, stimmt mich die Zerstörung der Zukunft des Planeten traurig und schäme ich mich dafür, wie die moderne Welt mit Flüchtlingen umgeht. Letzteres könnte mich fast noch einmal dazu bewegen, mich politisch zu engagieren – wie einst gegen Berufsverbote, nukleare Bewaffnung oder die friedliche (wie gefährlich Worte sind!) Nutzung der Kernenergie. Ich sage «fast», weil ich meine politischen Energien wohl aufbraucht habe. Ich bin 65 Jahre alt.

Warum die persönlichen Bekenntnisse? Weil nicht Wehleidigkeit mich zu dieser Meinungsäusserung antreibt. Und nicht Resignation. Eher schon ein entspannendes Mass an altersbedingter Abgeklärtheit, mit einem Hauch von aufgeklärtem Zynismus. Vor allem fühle ich mich noch immer mit der Fähigkeit ausgestattet, zornig zu werden. Im Moment erzürnt mich der Massenauftritt von Besserwissern, was die wirklichen Ursachen und den korrekten Umgang mit dem Coronavirus angeht, und selbstverliebten Zukunftsexperten, was die Zeit «danach» betrifft. Zu ersteren gehören wirtschaftsliberale Modellakrobaten, für die all das, was soziales Leben in seiner Schönheit und seinen Widrigkeiten ausmacht, einfach ceteris paribus gesetzt wird (so Reiner Eichenberger in Neue Zürcher Zeitung vom 24.3.2020). Die Herausforderung ist ganz sicher komplexer. Letztere gehen mir auf den Geist, wenn sie effekthaschend erklären, dass die Zukunft ganz anders sein wird und sie auch schon wissen, wie sie sein wird (wie Matthias Horx im Kurier vom 18.3.2020). Wann wurde die Zukunft nicht anders, wann sind wir je – eine uralte chinesische Weisheit – in den gleichen Fluss gestiegen? Die Ungewissheit der Zukunft ist das bedrückende Thema. Aber: so what? Allen Marktschreiern gestehe ich gerne zu, dass Karriere machen wollen kein Vorwurf sein kann (eines der praktischen Lebensweisheiten, die mir das Studium beschert hat).

Zornig erstaunt bin ich vor allem über eine Beobachtung. Mit 65 Jahren werde ich erneut – und wohl unmittelbarer und hautnaher als je zuvor – zur Ware in unserer vermarkteten Welt: ich werde «dazu verführt, gedrängt oder gezwungen, eine attraktive und wünschenswerte Ware anzupreisen. … Und die Ware, die sie gehalten werden auf dem Markt anzubieten, zu bewerben und zu verkaufen, sind sie selbst.» (Zygmunt Bauman: Leben als Konsum, Hamburg, S. 13). Natürlich verstört die Pandemie. Es erzürnt mich aber vor allem die Entwicklung des öffentlichen Diskurses zum Umgang damit: die zunehmend kalkulierende und eiskalte Ökonomisierung des Themas. Spätestens wenn wir die Krise überlebt (oder eben nicht) haben, muss Bilanz gezogen werden, und das Ergebnis scheint schon fest zu stehen: «Erwerbstätige sind die Verlierer, Rentner die Gewinner der Krise» (Finanzexperte Martin Janssen in Neue Zürcher Zeitung vom 25.3.2020). Diese Abrechnungen werden eifrig vorbereitet und bestimmen zunehmend bereits die nächsten Schritte zur Bekämpfung der Pandemie. In Bellinzona wie in Bern, in Berlin wie in London – und, nach kurzer Denkpause (?) wieder ganz vorn, natürlich in Washington, D.C. Das sich abzeichnende Ergebnis: Ich stehe wieder im Wettbewerb. Dass ich dies als Schulkind, als Student und im Arbeitsleben immer war, blieb mir nie verborgen. Ich nahm es sportlich, wenn auch immer wieder mit viel Unbehagen. Aber ich hatte mich schon der trügerischen Hoffnung hingegeben, dass ich als Rentner dieser Tretmühle – endlich – entkommen könne.

Der Wettbewerb betrifft nun im wahrsten Sinne des Wortes meine Überlebensfähigkeit (das Ob und das Wie). Ob dieser Wettkampf nett als respektable Triage umschrieben oder deutlicher verdammend Senizid genannt wird (Niall Ferguson in Neue Zürcher Zeitung vom 24.3.2020), verändert die Perspektive für die Betroffenen, genau besehen, nicht wesentlich. In jedem Fall muss ich nochmals einen Leistungsnachweis erbringen. Bescheinigt werden muss meine aktuelle Robustheit (die Produktqualität) oder meine Zukunftsperspektive – meine erwartbare Laufzeit. Noch einmal muss ich mich verkaufen, meinen Wert ausweisen, beweisen, dass ich meinen Preis (früher Lohn und Rente, jetzt zwei Wochen Intensivstation und Beeinträchtigung der nationalen Wirtschaftskraft) wert bin. All dies in Zahlen ausgedrückt, da man vermeintlich nicht managen kann, was man nicht messen und beziffern kann. Sozial zerstörerisch muss ich den Unterschied – meine «unique selling proposition» – zu anderen herausarbeiten (insbesondere die Differenz zu jüngeren Vorerkrankten erhöht meine Chancen). Dabei habe ich eigentlich meinen Frieden mit allen geschlossen. Ich möchte nicht mehr bewertet und quantifiziert werden, reduziert zum metrischen Ich.

Ich hatte gehofft, dass man sich nicht mehr um mich kümmern würde. Ich also frei sein könnte, wie letztmals in der Vorschulzeit. Jetzt diskutiert man freundlich, wie man mich am Nettesten davon abhalten könnte (frei) zu leben. Nicht mich als Person oder individuelles Mitglied der Gesellschaft. Mich als statistische Kategorie mit der mitreißenden Produktbezeichnung «65+». In einer Stückzahl von etwa 800 Millionen. Über zehn Prozent des Angebots (an menschlicher Ware) weltweit. Tendenz steil steigend. Eine Kategorie von Menschen mit aktuell miserablem Kosten-Nutzen-Koeffizienten. Im Moment eigentlich nur Kosten. Das schwächste Glied der Kette. Und daher – ganz nüchtern betrachtet – störend im Alltag. Bedrohlich für das morgige Wohlbefinden. Natürlich nicht als einzelner Mensch («unsere Oma, mein Opa»). Aber als Klasse von Menschen: «people as definite classes defined by definite properties» (Ian Hacking in London Review of Books 17.8.2006). Hacking beschreibt diesen depersonalisierenden Prozess des «Making Up People» für folgende Klassen von Menschen: multiple Persönlichkeiten, Autisten, Fettleibige, Selbstmordgefährdete, Obdachlose, Prostituierte. Im vorliegenden Fall geht es um: altersbedingt besonders gefährdete Personen. Immer werden aus einzelnen Menschen kategoriale Objekte der interessierten Beobachtung, der mitfühlenden Behandlung, der fürsorglichen oder aggressiven Absonderung. Derartige Kategorisierungen transformieren Menschen zur standardisierten und anonymisierten Massenware, egal ob sie Geschlecht, Religion, Herkunft, Rasse – oder eben Alter – bezeichnen. Als individuelles Mitglied einer solchen Angebotskategorie macht es keinen grossen Unterschied, ob man fürsorglich betreut, achselzuckend abgeschoben, effizient sonderbehandelt, moralisch bedrängt oder polizeilich gezwungen wird. Die kommunikative List von Nomenklaturen durchschaue ich längst (und solange ich noch nicht dement bin).

In der Hauptsache bin ich mit dem freiwilligen und frühzeitigen Eintritt in den Ruhestand den systematisch und strukturell – wenn ich es im Geiste der persönlichen Betroffenheit etwas zugespitzt formulieren darf – menschenverachtenden Mechanismen der Wirtschaftswelt aus dem Weg gegangen. Schon auf diesem Arbeitsmarkt wurde das Altern nicht etwa als verdienstvoll geachtet oder wegen der damit verbundenen Erfahrung gepriesen. Vielmehr wurden die vermeintlichen Produktmängel beargwöhnt: der zu hohe Preis (aufgrund der rituellen und damit unverdienten akkumulierten Lohnerhöhungen), der schleichende Leistungsabfall (ähnlich gebrauchter Akkus), die nachlassende Agilität, die schwindende Resilienz, die zunehmende Widerspenstigkeit.

Entkommen war ich diesem Hamsterrad für den Rest meines Lebens, hatte ich gehofft. Als Individuum hatte ich es in der dritten Lebenshälfte irgendwie geschafft, dachte ich. Aber jetzt holt mich die Mitgliedschaft in einer Warengruppe ein. 65+ muss seine Daseinsberechtigung beweisen. Die andersgeartete Hoffnung scheint weltfremd: «Ich gehöre zu dieser Gruppe und bin ebenso sicher wie dankbar, dass die grosse Mehrzahl meiner jüngeren Zeitgenossen – tatsächlich um jeden Preis – eine Situation abwenden möchten, in der das Gleichheitsprinzip durchbrochen werden müsste.» (Hans Ulrich Gumbrecht in der Neuen Zürcher Zeitung vom 25.3.2020). Aber genau dieser Preis rückt nun bemerkbar ins Zentrum der Debatte. Der Preis, den man für die Aufrechterhaltung des Gleichheitsprinzips oder des Prinzips der Solidarität zu zahlen bereit ist.

Das Wohlbefinden der Kohorte von Menschen über 65 wird in wirtschaftlichen Kategorien abgewogen mit dem Wohlbefinden «der» Wirtschaft. Genannt werden meist Arbeitsplätze. Wirklich gemeint sein könnten Gewinne. Das ist letztlich zweitrangig. Zentral ist die gewählte Währung, in der hier gerechnet, verrechnet und abgerechnet wird: ökonomischer Nutzen. Am besten ausgedrückt in finanziellen Grössen, der geschmeidigen Vergleichbarkeit wegen quantifiziert in Geldsummen. Scheinbar ohne moralökonomische Überlegungen mit den damit notwendigen schwierigen Abwägungen des Guten und Richtigen. Genau genommen aber eben nicht, weil es keine moralischen Grenzen des Marktes mehr gäbe. Sondern weil die ökonomisch gedeutete Nutzenmaximierung die Moralvorstellungen in allen Bereichen durchdringt und dominiert. Gesellschaftlich gut und richtig ist nur, was diesen ökonomischen Nutzen nachzuweisen in der Lage ist.

Vor diesem Hintergrund wird es unausweichlich: 65+ braucht in dieser vermarkteten Welt eine breite Vermarktungsoffensive. Im Geiste der Rebellion und des Widerstands. Um Einfluss zu nehmen auf den «die Alten» betreffenden Prozess des «Making Up People». Die Offensive braucht es nicht nur in der Krise. Aber ganz offensichtlich und drängend in ihr. Gegen die Etikettierung als besonders gefährdete Personen. Ansonsten droht der Warengruppe das Ende. Das vorzeitige Ende. Aber es droht andererseits den einzelnen Mitgliedern der Gruppe ja sowieso das Ende. Und eine sinkende durchschnittliche Lebenserwartung löst viele gesellschaftliche Probleme (vorbildlich auch hier die USA). Also scheint das hier identifizierte Problem eigentlich die gesellschaftliche Lösung zu sein. Dann sollten wir – die 65+er – uns besser nicht darauf verlassen – wie Niall Furguson: «Doch in den 2020ern wird ein Senizid niemals toleriert werden, am allerwenigsten in modernen, entwickelten Demokratien. Diejenigen, deren Unterlassungssünden und mangelhaft durchgeführte Aufgaben zu landesweiten Seniziden geführt haben, werden wie die Täter der Genozide im 20. Jahrhundert streng verurteilt werden – nicht nur von der Geschichte, sondern auch von Wählern und ziemlich wahrscheinlich auch von Richtern.» Man kann das auch – wohl nicht zuletzt im Hinblick auf Wahlchancen – anders sehen: «Texas Lt. Gov. Dan Patrick: ‘Lots of Grandparents’ Willing to Die to Save Economy for Grandchildren» (Vanity Fair vom 24.3.2020).

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Ein Beitrag von:
29. März 2020

Prof. Dr. Jürgen Häusler ist Honorarprofessor für strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig. Bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 war er Chairman bei Interbrand Central and Eastern Europe, und hat Unternehmen und Organisationen weltweit bei der Entwicklung von Marken beraten. Als Sozialwissenschaftler hat er u.a. am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln gearbeitet.

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