Über Typografie für Nicht-Typografen. Und zur Orientierung für Brand Manager.

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GOLDENE REGELN (1)

Der Umgang mit der Sprache - bis Mitte der Siebzigerjahre wurde sie in Blei gegossen.
Gemachte Erfahrungen des Schriftsetzers Olaf Leu von 1954 bis 1957 in der Handsetzerei der Bauerschen Giesserei in Frankfurt am Main.

„Meister fallen nicht vom Himmel. Talent hilft, aber ohne Erfahrung, Einsatz und Wille zu lernen - immer und immer wieder - geht es eben nicht. Den nachfolgenden Text hätte ich gern 15 Jahre früher gehabt und meinen Studenten zur Lektüre gegeben.“ Prof. em. Stephan Müller, Hochschule für Typografie und Buchgestaltung Leipzig .

1. Wie erkennt man die Qualität einer Schrift?

Das erfordert ein geübtes, vor allen Dingen trainiertes Auge. Und das wird einem nicht an einer Schule beigebracht. Und heutzutage - man schreibt das Jahr 2025/26 - schon garnicht. Ein Alphabet besteht aus zweimal 26 Buchstaben. Dazu kommen noch mannigfaltige „Zeichen“ wie Kommas, Punkte, Klammern - eckig und rund, und, und, und … es kommen Ziffern, 1 bis 0, hinzu. All dies in einer entstehenden Kolumne untergebracht - oder angewandt - bestimmt das Schriftbild, das Gesamt-Bild.


Es gibt Schriften, die innerhalb ihrer 26 Einzelbuchstaben Auffälligkeiten aufweisen, was ein Gesamtbild „unruhig“ macht. So achte man auf das kleine „g“, es sieht oft wie ein verdrehter Drahtbügel - Kleiderbügel - aus. Eine nicht bewältigte Form! Genauso mit dem kleinen „ß“. Beide „verhindern“ ein harmonisches Gesamtbild. (Ein Grund warum ich die COMPATIL mit einem „Fleischerhaken-g“ ausgestattet hatte.)

Harmonie entsteht nur, wenn die einzelnen Buchstaben zueinander passen - und das wechselt im Gebrauch. Es gibt da Kombinationen, die „unglücklich“ sind, von Anfang an Schwierigkeiten bereiten. So Buchstaben wie „v“ und „w´“, die eine „lichte Schräge aufweisen“, mit dem nächstfolgenden Buchstaben Schwierigkeit hat, dieser Schräge entgegenzukommen, sie auszugleichen. Denn das Ganze ist ein Spiel von Dunkel (der Buchstabe) und LIcht (die freien Durchblicke). (In der Bauerschen Gisserei gab es einen Hobel, mit dem konnte man links oder rechts die „Bleischulter“ abhobeln“ - so konnte man „den Lichteinfall innerhalb einer Zeile“ beeinflussen.)

2. Wie kommt man zu einer Beurteilung?

Dies ist letztlich Sache eines ernsthaften Engagements sich Kenntnis anzueignen. Hier gibt es keinen Schnellkurs. Man muss sich Vieles anschauen, miteinander vergleichen, auch ausprobieren. Man kann vieles „ablesen“, aber letztlich ist es der Umgang, der selbsterworbene und nicht abgelesene. Denn letzteres „sitzt“ nicht fest, ist nur Allüre. Früher gab es dafür eine „Lehre“ (3 Jahre), dann war man „Gehilfe“, erst dann konnte man zum „Meister“ werden. Heutzutage am Mac geht zwar alles schneller, aber es ist nicht „meisterlicher“ geworden, eher das Gegenteil. Es ist ein Verlust der Kultur eines harmonischen Satzbildes eingetreten.

 3. Gibt es „Schriftempfehlungen“?

Ja, die gibt es. Und sie beruhen auf den Meistern. Ob Zapf, Tschichold, G. G. Lange, Baum, Frutiger - sie alle und weitere hier nicht genannte Meister - haben Harmonisches geschaffen. Hier ist der Name des Meisters Hinweis oder Garantie der Qualität. Man achte auf Namen und dann auf ihr Geschaffenes. Das ist das, was ich Studium der Materie nenne. Und ein Studium und die dafür einzusetzende (viele) Zeit kann und will ich niemanden abnehmen - oder erlassen. Von wenig kommt meistens noch weniger …

4. Tipps aus dem Nähkästchen der Bauerschen Giesserei:

Kommen wir zu einem Detail: einer Kolumne.

Die Breite einer Kolumne ist individuell. Gehen wir von 9 bis 10 cm Breite aus - übrigens eine empfohlene Breite, in der ein Leser die ganze Zeile mit einem Blick erfassen kann! (Schon was gelernt, ha,ha …) Am Anfang geschieht des besseren Zugangs halber für das Erfassen ein Einzug! Wie breit darf dieser sein? Dazu der Tipp: Jedes verwendete Alphabet hat zwei „dicke“ Versalbuchstaben, nämlich das große „M und das W“. Diese „Dicke“, oder Volumen, bestimmt den Einzug. Und der richtet sich nach der Breite der Gesamtzeile. Man nehme minimal drei dicke „M“ - maximal vier! Dann hat man den richtigen harmonischen Einzug geschafft! (ei, ei, das wusste ich nicht, der Professor auch nicht, ha,ha …)

Und wie mache ich das mit den Wortabständen? Diese bestimmt der Innenraum des kleinen „u“ oder „n“ - oder bei Versalgebrauch der Innenraum der Versalie „U“. Kapiert?

Okay! Aber wie ist das mit sogenannten Rausatz, oft mit „Flattersatz“ verwechselt, wie oft darf es harmonisch „flattern“?

Der Tipp: Rausatz ist eine höchst „gefährliche“ Kombination und verlangt viel Geduld. Und: es verursacht unliebsame Trennungen. Eine zusätzliche Schwierigkeit! Kommen wir zu den unumgänglich auftretenden Trennungen: Jedes Wort ist ein Begriff! Also - wenn - dann nur im Bestandteil der Silben. Man vermeide die Trennungen von kurzen Sätzen wie „Hil-fe“, die müssen entweder in der vorhergehenden Zeile oder in der nächsten „untergebracht“ werden. Da hilft nix! Denke an die Sprache, Trennungen bedeuten gesprochen ein Stottern! Ich habe meinen Studenten immer gesagt, lesen sie mir das doch mal gesprochen vor, was sie hier „typografiert“ haben … daraufhin kam ein Gestotter. Typografie ist abstrakte Sprache!

Und jetzt zuletzt die „Fransen“ im Rausatz - wie lang oder kurz dürfen die sein? Gleiches Prinzip wie beim Einzug: Das Wechselspiel von minimal 3 dicken „M“ - maximal 4! Alles was darüber hinausragt, ist wie ein Ast, der abzusägen wäre.

Erkenntnis: Es ist der Buchstabe in einem Alphabet, was den Einzug oder das Ende in einer Rausatzzeile bestimmt (das individuell ist, deshalb Vorsicht) Es geht immer um das dicke M oder W, oder das kleine u oder n beim Wortabstand. Alles andere ist Murks.

Bei der Bauerschen Giesserei hatten wir einen eigenen Korrektor, ein Männlein aus einem Fritz Lang Film, der mitleidslos alle Fehler gnadenlos mit Rot anstrich, wir fürchteten ihn, aber es gab kein Erbarmen.

Das hier sind/waren unverrückbare Regeln. Sie galten in einer Zeit, die ab Mitte der Siebzigerjahre verloren gingen. Meinen „jungen“ nachfolgenden Generationen hier zum Vermächtnis. Druckt es Euch aus. Hängt es Euch über den Schreibtisch. An Euren Super-PC. Denn es gibt Dinge, die bewahren und bewahrheiten sich.

4. Dezember 2025
Ein Beitrag von:

Olaf Leu (1936 *) begann seine Laufbahn als typografischer Gestalter in der Bauerschen Giesserei, war Assistent des Creative Directors bei der Werbeagentur Hanns W. Brose und machte sich 1971 mit seinem eigenen Studio in Frankfurt am Main selbstständig. Als Kalender-Papst und unkonventioneller Verpackungsdesigner machte er sich ebenso einen Namen, wie als langjähriger Leiter des Prüfsegments Optik im Jahreswettbewerb „Die besten Geschäftsberichte“ des manager magazins. Er ist „gleichermassen scharfsinniger, wie schlagfertiger Design-Denker und -Journalist" – wie es in der 2018 gehaltenen Laudatio zur Aufnahme als Ehrenmitglied der Typografischen Gesellschaft München hieß – brachte den TDC, den ADC of New York und Japanisches Design nach Deutschland und ist Kritiker von Designwettbewerben, die er in so mancher Ausprägung „Bluff“ nennt. Die Messlatte des gestalterischen wie ethischen Anspruchs an sich selbst und an seine Designkollegen liegt im Hochpräzisionsbereich, wie auch in seinen autobiografischen Werken „Bilanz 1951 bis 1970“ - „Bilanz 1971 bis 2011“ - „i.R.“ und „R/80“ sowie im „Das Letzte Interview“ nachzulesen ist.

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