The Business of Brand Management
Brand Management Library

Branding oder Marketing?

Brauchen Marken Marketing? Braucht Marketing noch Marken? Oder: Was läuft falsch bei den Marken und im Marketing?

Noch nie haben sich in der Welt der Marken und des Marketings strategische und organisatorische Mankos deutlicher als zurzeit gezeigt.
Dr. Jürgen Häusler, Markenprofi, langjähriger Chairman von Interbrand EMEA und Professor für Sozialwissenschaften, ist der Auffassung, dass die Erfolgsgeschichte der Marke im merkwürdigen Widerspruch zur zunehmend misslichen Lage derer steht, die Marken in Unternehmen, Organisationen und Institutionen entwickeln (siehe dazu Wie steht es um die Marke – Beobachtungen eines kritischen älteren Herrn“).
Sebastian Oschatz, KI-Spezialist bei MESO DIGITAL INTERIORS, ist überzeugt, dass die digitale Aufmerksamkeitsökonomie einer nachhaltigen Markenführung die Grundlage entzieht.

Marco Spiess, Managing Partner von think moto, Berlin, meint, dass Consumer Centricity keineswegs nur „Data & Algorithm“ bedeutet.

Erik Spiekermann, Gestalter und Mitglied im Supervisory Board von Edenspiekermann, zum neuen ZARA-Logo in Horizont: „Es geht nur um Lärm, Klicks und Follower. Wir fallen darauf rein, denn nichts anderes will die Marke ja: Wir sollen darüber reden.“

„KI ist immer gegen Branding. Für Marken kann dies eine echte Todesspirale in Gang setzen.“ Prof. Peter Gentsch in HORIZONT.

Nach Einschätzung von Prof. Dr. Britta Bergemann behindert allerlei Halbwissen bei fehlendem stringenten Denken die Marken-/Marketing-Branche (siehe dazu: Muss Markenführung noch sein?).

Das Geblubber der Branche, mit dem die Fachpresse ihre Rubriken füllt, ist kaum mehr auszuhalten. Aus welchem Blickwinkel man es auch immer betrachtet: Marc S. Pritchard, Chief Brand Officer von P&G, fragt mit Recht entnervt, ob wir denn jetzt alle total verrückt geworden sind.

Keine Frage, so kann es nicht weitergehen. Aber was ist passiert, was ist die Ursache, der Hintergrund der aktuellen Situation?

In erster Linie geht es um beliebige Interpretationen, um falsches Verständnis und Unwissen. Um die übliche Schaumschlägerei der Branche. Um Krach, um Aufmerksamkeit um jeden Preis. Um die (aktuell: digitalen) Marketing-Säue, die unablässig durch das Marken-Dorf getrieben werden.

Was ist Marke? Was ist Marketing? Wer hat heute den Hut auf? Hat noch jemand den Überblick? Will das überhaupt noch jemand wissen? Immer deutlicher wird, dass die Branche im Zeitalter der „digitalen Transformation“ völlig verwirrt ist, alles nur noch in einen Topf wirft, kräftig verrührt, sich auf jedes neue Buzzword stürzt und es umgehend zur seligmachenden Weisheit proklamiert. Jedes Mittel ist recht. Hauptsache Erfolg. Einziges Ziel: Sales.

Die Zeiten haben sich aber grundlegend geändert. Anstatt jeder sich bietenden Chance kopflos hinterher zu rennen, bedarf es Besonnenheit, übergeordneter Strategien und zentraler Steuerung, um den Erfolg nicht kurzfristig, sondern nachhaltigzu sichern.

Neben diesen grundlegenden Problemen haben wir es zusätzlich mit befremdlichen gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun:

„America first“ hat sich zur Leitlinie entwickelt. Mittlerweile erfahren wir fast tagtäglich, was ein skrupelloser Rabauke mit Lügen, Gegröle, Rüpeleien, lautstarken Getöse anrichten kann. Selbst wenn man damit Wahlen gewinnt – was schon bedenklich genug ist – sollte das nicht als Orientierung für Marken dienen. Denn Marken zeichnen sich durch Werte wie Vertrauen, Qualität, Innovation, Solidität, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Transparenz aus, und der hirnlose Drang nach noch mehr Aufmerksamkeit wird sich für die Marken langfristig als Gift herausstellen. Von daher wäre die eine oder andere Marketing-abteilung, und allen voran die Markenverantwortlichen, die in der Hauptsache ebenfalls auf den Erfolg von Krawall und Gags setzen, gut beraten, vor dem Hintergrund dieses üblen Negativbeispiels ihre Strategien zu überdenken. Schaut man sich heute Werbung (übrigens eine Kommunikations-Disziplin) an, hat man den Eindruck, dass ein Großteil unter dem Einfluss von Big Data/Algorithmus und totaler Aufmerksamkeitsökonomie – markenstrategisch völlig daneben und total niveaulos – nur noch für Vollidioten konzipiert zu sein scheint. Für wie blöd hält man eigentlich seine Kunden?

Um bei Negativbeispielen zu bleiben: Runter mit der Krawatte, raus aus dem Anzug, rein in die Jogginghose und Sneakers, und ab ins Silicon Valley – das Top-Management hat offenbar den Verstand verloren. Mit „Disruption“ sind die CEO´s letztlich dem Marketing auf den Leim gegangen, anstatt sich ihren ureigenen Aufgaben zu stellen, die Markenwerte (vor-) zu leben und einen glaubwürdigen Markenbotschafter abzugeben. Mit zerknitterten und zu langen Hosen können – trotz der notwendigen neuen Managementmodelle – weder Vorbildfunktionen noch nachhaltig positive (Marken-)Erlebnisse gewährleistet werden.

Nur: Was ist Erfolg?

Die „Influencer“ werden ihn dauerhaft ganz bestimmt nicht sicherstellen. „Targeting“, die viel zitierte „Customer Journey“, „Content-Marketing“ (Was ist das eigentlich?) sowie „Social Media“, auch wenn einige Ansätze sicher ihre Berechtigung behalten, verlieren auf längere Sicht an Interesse, was sich ja (man denke nur an die vergreisenden Nutzer von Facebook) bereits abzeichnet.

Ist die Marke also tot? Hat sich Marketing überlebt?

„Unser Unternehmen ist auch ohne Marke erfolgreich“. Diese Aussage hört man immer öfter. Und sie ist schlichtweg Bullshit!

Wie Roland Albrecht, Geschäftsführer der Markenberatung Goya und Kolumnist für BILANZ schreibt, sind es drei große Kräfte, die Marktwirtschaften bewegen: Geld, Innovation und Marke.

Trotzdem stehen Marken unter Rechtfertigungsdruck: „Ich erlebe immer wieder Diskussionen, in denen der Faktor Marke von Managern als völlig überflüssig und nutzlos für den Unternehmenserfolg bezeichnet wird“.

In der Marke wird angeblich kein „Substanzwert“ gesehen. Schon seltsam, denn andererseits träumt man von APPLE, auch wenn man die notwendigen Konsequenzen scheut. Dazu bedürfte es eines charismatischen Vordenkers und Botschafters nach innen und außen wie Steve Jobs. Was die Schlussfolgerung zulässt, dass fehlende Visionen, fehlender Mut und fehlende Verantwortungsbereitschaft offenbar das Hauptproblem sind.

In the 21th century, branding ultimately will be the only unique differentiator between companies. Brand equity is now a key asset (Fortune Magazin, 2013).

Für 9 von 10 Unternehmen ist die Marke erfolgsentscheidend. Jedes zweite Unternehmen schätzt den Anteil des Markenwertes am Gesamtunternehmenswert auf 50% (PWC-Studie, 2013).

Der Begriff ‚BRAND ORIENTATION* geht auf eine empirische Studie von Johan Gromark und Frans Melin (Lund University) zurück, die schon in den 1990er Jahren bei markenorientierten Unternehmen eine bis zu 50% höhere Profitabilität als bei konventionell organisierten Unternehmen feststellte.

*Brand Orientation is a deliberate approach to brand building where brand equity is created through interaction between internal and external stakeholders. This approach is characterised by brand being the hub around which the organisation´s processes revolve, an approach in which brand management is perceived as a core competence and where brand building is intimately associated with business development and financial performance (Gromark and Melin, 2011).

Der Kronzeuge dafür, dass Marken zum Inbegriff von Unternehmenserfolg geworden sind, ist nach wie vor Steve Jobs. Seine Einschätzung ist immer noch zutreffend: „Marketing is about values. It is a complicated and noisy world, and we are not going to get a chance to get people to remember much about us. So we have to be really clear about what we want them to know about us.“ Natürlich geht es um Werte – schließlich ist es ja Aufgabe des Marketings, Geschäft zu generieren. Steve Jobs Statement macht aber auch deutlich, dass Marke mehr als Marketing ausmacht.

So gesehen, ist die Marke alles andere als tot. Gleichzeitig hat Marketing weiterhin seine spezifische Berechtigung – wenn auch mit einer anderen Aufgabe, als man das einmal ursprünglich angenommen hat. Marketing „braucht“ keine Marken. Vielmehr ist es Aufgabe des Marketings, die Markenstrategien in entsprechend absatzfördernder Maßnahmen umzusetzen. Marken dabei lediglich als ein mögliches Werkzeug zur Erreichung der Absatzziele zu benutzen, ist zu kurz gesprungen. Selbst dann, wenn bei Großkonzernen im Bereich von B2C mit unzähligen Produkten heute ohne Marken kaum mehr eine Differenzierung möglich ist (siehe dazu „Stop the Branding“).

Was läuft falsch in der Welt der Marken und im Marketing?

Meines Erachtens geht es um zwei Problemkreise:

Im Gegensatz zum früheren Management der Absatzmärkte haben wir es heute weniger mit rationalen als mit emotionalen Faktoren zu tun. Bekanntlich gehört Emotionalität aber nicht gerade zu den ausgesprochenen Qualifikationen des Top-Managements. Umdenken ist daher angesagt. Wer auf Marke setzt, kann nicht ausschließlich auf Machen setzen, muss tradierte Gepflogenheiten einreißen, auch wenn es Aufwand bedeutet. Eingefahrene Wege müssen in Frage gestellt werden, mit dem Instrumentarium der vergangenen Jahrzehnte lässt sich in Zeiten digitaler Transformation kein Blumentopf mehr gewinnen.

Eingefahrene Wege verlassen bedeutet wiederum nicht nur Umparken im Kopf, sondern auch strategisch, organisatorisch und nicht zuletzt kommunikativ Neupositionierungen vorzunehmen. Blaupausen zur Orientierung sind zu Hauf vorhanden. Zum „Prozess des identitätsorientierten Markenmanagements“ haben Burmann, Blinda, Nitschke bereits 2003 Vorschläge unterbreitet, die noch heute Gültigkeit haben.

Wie immer stinkt der Fisch vom Kopf.

Die Metapher zeigt, wo das wesentliche Problem liegt. Wie soll etwas funktionieren, wenn sich die Ausgangslage völlig verändert hat, die Steuerung der neuen Lage aber weiterhin mit den Strukturen der letzten Jahrzehnte bewältigt werden soll und nicht angepasst wird?

Richtung.

Unterschiedlichste Definitionen und Interpretationen von Branding, Brand Management, Marketing etc. einerseits, Halbwissen und Beliebigkeiten, die Leidenschaft der Branche für tagtäglich neue Lösungsansätze andererseits, stehen jedem professionellen Handeln unweigerlich im Weg.

Zwei Beispiele:

Wenn der Chief Branding Officer einfach mal so zum Chief Brand Officer umgetauft wird, kann man das als banale Nebensache abtun. Es zeigt aber, dass nicht wirklich nachgedacht, sondern wieder nur ein neues Fass aufgemacht wurde.

Wenn aus Brand Management nun Business-Driven Branding wird, damit angeblich das Top-Management eher erreicht werden kann, lässt dies leider nur Rückschlüsse auf den Geisteszustand der Beteiligten zu.

Strategie, Verantwortung, Engagement

Kurz gefragt: „Brand Orientation“ ja oder nein? Wer das Ziel nicht kennt, wird den Weg nicht finden. Wenn die Verantwortlichkeiten nicht eindeutig geklärt sind, hat noch nie etwas funktioniert. Wenn sich der CEO nicht als der oberste Markenverantwortliche versteht, der mit Vision, Mut und Verantwortungsbewusstsein voranschreitet und als wichtigster Markenbotschafter das Unternehmen und seine Marke nach Innen und Außen repräsentiert, sind alle Aktivitäten – auch in den modernsten, hierarchie-reduzierten/-losen Organisationsformen – vergebliche Liebesmüh.

Strukturen

Wie sollen die immer komplexeren Aufgaben gelöst werden, wenn die dazu notwendigen Strukturen im Unternehmen fehlen? Stattdessen weiterhin mit historisch gewachsenen Abteilungssilos zu operieren, wird den heutigen Anforderungen schon lange nicht mehr gerecht. Dementsprechend stimmen auch die heutigen Rollen und Prozesse in vielen Fällen nicht mehr. Entgegen weitverbreiteter Meinung ist Marke kein Vehikel des Marketings. Daher ist auch fraglich, ob der CMO oder Head of Marketing ein kompetenter Gralshüter der Marke sein kann. Marke ist Kommunikation. Wenn man schon keinen Chief Branding Officer installieren möchte, ist der Head of Communications jedenfalls die richtigere Lösung, was das eine oder andere Markenunternehmen durchaus positiv belegen kann.

FAZIT:

Das Marketing war einmal dazu gedacht, benötigte Produkte zu ermitteln und sie zu vermarkten. Später wurde es notwendig, die Produkte zu kennzeichnen, ihnen eine Identität zu geben, um sie von anderen Produkten abzugrenzen. Die Entwicklung zeigt aber, dass im Zeitalter technologisch identischer Produkte und zunehmend gesättigter Märkte im Grunde nur noch die Marke zählt. Vor diesem Hintergrund sind innovative Instrumente, mehr Emotionalität, eine andere Kommunikation als bislang notwendig. Die zu ihrer Umsetzung notwendigen Organisationsstrukturen fehlen jedoch in der Regel. Trotz digitaler Revolution müsste aber mit Blick auf Marketing und Marke nichts Neues erfunden, das Ganze nur richtig umgesetzt werden. Seit vielen Jahren bestehen Strategie- und Organisationsmodelle, die für die dringend notwendigen Neufokussierungen ausreichen, Orientierung bieten.

Die Crux: Wer kümmert sich darum? Wer ist zuständig? Die CEO´s sehen dies meist nicht als ihre Aufgabe an. Offenbar belassen sie es lieber bei historischen Strukturen, sehen die Verantwortung auf anderen Managementebenen und hoffen bezüglich der Brand Performance auf ihr gutes Glück – oder eine erfolgreiche Sales-Abteilung. Fatal. Denn der CEO ist gerade hinsichtlich Marketing und Marke inhaltlich wie strategisch gefragt und darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen – schließlich geht es um den Erfolg des Unternehmens.

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Ein Beitrag von:
26. Juni 2019

Günther Misof ist Founder und Editorial Director von THE BUSINESS OF BRAND MANAGEMENT. Er verfügt über mehr als vierzig Jahre Erfahrung in Markenführung/Brand Management als Gründer, Geschäftsführender Gesellschafter, Partner und Managing Director von mehreren Beratungsunternehmen in Frankfurt am Main und New York.