Die Ökonomie des Verschwindens. Über Orte, an denen Marken nichts zu suchen haben.
In der Aufmerksamkeitsökonomie gilt als ausgemacht: Wer gesehen wird, gewinnt.
Diese Vorstellung hat sich zur unhinterfragten Grundannahme unserer Zeit entwickelt. Marken gelten dabei als Schlüsseltechnologie: Sie machen Produkte unterscheidbar, Unternehmen vertrauenswürdig, Dienstleistungen erinnerbar. Sie versprechen Differenz, stiften Orientierung und suggerieren Identität – auch dort, wo faktisch Austauschbarkeit herrscht. Gerade diese vermeintlich universellen Leistungen machen die Marke attraktiv für „Gott und die Welt“: für Städte, Staaten, Hochschulen, Stiftungen, Parteien – für alles, was sichtbar sein will, soll oder muss. Doch je allgemeiner das Markenprinzip wird, desto stärker droht seine Entwertung. Was überall gilt, erklärt am Ende nichts mehr.
Dabei ist die Ökonomie der Aufmerksamkeit nicht allein. Es existiert ein paralleles Prinzip, das nicht einfach entgegengesetzt, sondern komplementär ist: die Ökonomie des Verschwindens. Beide sind keine Epochenphänomene, sondern strukturell gleichzeitig wirksam – oft sogar im selben Kontext. Die eine lebt von Sichtbarkeit, die andere vom Entzug. Beide reagieren aufeinander, beide bedingen einander. Diese Überlegung führt zu einer anderen, oft übersehenen Wirtschaftsform: einer Ökonomie des Verschwindens. Sie funktioniert nicht nach dem Prinzip „sei einzigartig“, sondern nach einem abgestuften Gegenprinzip – das von „sei austauschbar“ über „sei unauffällig“ bis hin zu „sei unsichtbar“ reicht. Die Stufen markieren unterschiedliche Verhältnisse zur Sichtbarkeit: ökonomisch, kommunikativ, strategisch. An einem Ende stehen standardisierte Module, die beliebig ersetzbar sind. In der Mitte bewegen sich Unternehmen, deren Erfolg in funktionaler Neutralität liegt. Und am anderen Ende finden sich Akteure, deren Existenzform das vollständige Entziehen aus öffentlicher Wahrnehmbarkeit ist. Nicht jede Wirtschaft will erkannt werden. Manche können nur existieren, wenn sie es nicht werden.
Beispiele finden sich in großer Zahl – und sie betreffen keineswegs nur Randbereiche. Im Gegenteil: Die entmarkierten Sphären der Wirtschaft sind oft systemrelevant. Zulieferindustrien fertigen Produkte, die als Komponenten in markierte Endprodukte eingehen, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Produktionsstätten, die für Dritte herstellen, verzichten auf jede Form öffentlicher Repräsentation. Auch logistische Netzwerke, die Warenströme global bewegen, agieren bewusst zurückhaltend – effizient, aber unkenntlich. Sichtbarkeit erzeugt Fragen, und Fragen stören die standardisierte Leistungserbringung.
Besonders augenfällig wird dies im Rohstoffsektor, etwa bei den sogenannten Seltenen Erden. Trotz ihrer zentralen Rolle für Zukunftstechnologien – von Smartphones über Windräder bis zu Rüstungsgütern – treten diese Materialien in keiner symbolischen Öffentlichkeit auf. Keine Marke, kein Absender, keine Geschichte. Der globale Handel mit ihnen ist durch Intransparenz, politische Sensibilität und hochspezialisierte Zwischenstrukturen geprägt. Was geliefert wird, ist Funktionalität – nicht Identität.
Auch in der digitalen Infrastruktur dominiert längst die Logik des Verschwindens. Dienstleister für Speicherung, Abwicklung, Skalierung und Sicherheit betreiben das Rückgrat der vernetzten Ökonomie, ohne selbst im Vordergrund zu stehen. Ihre Geschäftsmodelle beruhen gerade auf funktionaler Transparenz und semantischer Leere. Sie sind erfolgreich, weil sie sich aus dem Spiel um Aufmerksamkeit heraushalten. Nicht Identität zählt, sondern Verfügbarkeit, Geschwindigkeit, Kompatibilität.
Noch radikaler ist die Unsichtbarkeit im Bereich der finanziellen Schattenstrukturen. Netzwerke zur Steuervermeidung oder Vermögensverschiebung operieren in einem Umfeld, das auf minimale Sichtbarkeit angewiesen ist. Kein Logo, kein Claim, keine Geschichte – nur Zweckform, Zugriffsschutz und Intransparenz. Ziel ist nicht Adressierbarkeit, sondern Entlastung durch Unkenntlichkeit. Verantwortung wird ausgelagert, Zurechnung vermieden.
Kriminelle Ökonomien treiben dieses Prinzip auf die Spitze. Hier gilt maximale Undifferenzierbarkeit. Jede symbolische Spur ist ein potenzielles Risiko. Die erfolgreichste Marke ist jene, die niemand kennt, die keinen Namen hat, die nicht erinnert werden kann. Diese Logik der vollständigen Entmarkierung ist nicht nur ein Schutz gegen Verfolgung – sie ist Bedingung ökonomischer Wirksamkeit unter Bedingungen des Misstrauens.
Gleichzeitig entstehen hybride Formen, in denen Entmarkierung und Markenwirkung ununterscheidbar werden: In unbekannten Fertigungsstätten werden Markenartikel in Wochenendschichten produziert, auf inoffiziellen Wegen erreichen sie reguläre Vertriebsstätten – und werden von Konsument*innen als Originale gekauft. Der Markt nimmt sie als das, was sie nicht sind – und genau darin liegt ihre Effizienz. Es sind absolut echte Fälschungen.
Je näher eine Wirtschaftssphäre an legalen, medialen und symbolischen Öffentlichkeiten agiert, desto eher verlangt sie nach Wiedererkennbarkeit. Je stärker sie dagegen im Hintergrund funktioniert – sei es aus strategischer Notwendigkeit oder aus strukturellem Selbstschutz –, desto wichtiger wird das Verschwinden. Es geht dabei nicht um Vertrauen, sondern um Vermeidung: die Vermeidung von Risiko, Kontrolle, Haftung. Die Marke dient der Zurechenbarkeit, die Entmarkierung der Entlastung.
Diese Unterscheidung verweist auf eine strukturierende Differenz: zwischen markierten und entmarkierten Sphären. Die einen sind sichtbar, emotional, erzählbar. Die anderen sind funktional, neutral, unkenntlich. Sie existieren nicht nacheinander, sondern nebeneinander – und oft ineinander verschränkt. Die markierte Ökonomie glänzt, weil eine andere für sie unsichtbar funktioniert. Die Bühne braucht das Backstage. Die Marke braucht die Entmarkierung.
Diese Einsicht hat auch eine politische Dimension. Denn Unsichtbarkeit schützt – nicht nur vor Aufmerksamkeit, sondern auch vor Zurechnung. Doch der Umkehrschluss wäre falsch: Sichtbarkeit heißt noch lange nicht Rechenschaft. Marken erzeugen Aufmerksamkeit, aber nicht automatisch Verantwortung. Im Gegenteil: Sie können Verantwortung simulieren, ohne sie einlösen zu müssen. Ein Logo ersetzt keine Haftung, ein Claim kein Gemeinwohl. Die Rhetorik der Marke – als angeblich greifbares, kontrollierbares Gegenüber – verdeckt oft mehr, als sie offenlegt. Entmarkierte Sphären hingegen verzichten nicht einfach auf Öffentlichkeit, sie operieren jenseits des symbolischen Zugriffs. Sie machen sich schwerer adressierbar – und gewinnen so strukturelle Freiheit. Die politische Frage lautet also nicht: Wer stellt sich der Öffentlichkeit? Sondern: Wer entzieht sich ihr erfolgreich – weil er nicht sichtbar, nicht benennbar, nicht angreifbar ist?
Was heißt das für die Markenmacher*innen – jene, die täglich Differenz erzeugen, Bedeutungen aufladen, Aufmerksamkeit steuern? Vielleicht dies: Die wahre Herausforderung beginnt dort, wo die eigene Logik an ihre Grenzen stößt. Dort, wo keine Marke gebraucht wird. Dort, wo Sichtbarkeit kein Ziel, sondern ein Risiko ist. Es wäre zu einfach, diese Zonen als defizitär zu betrachten – als unentwickelt, unkommunikativ, unmodern. Im Gegenteil: Sie sind oft hochproduktiv, hochspezialisiert, hochprofitabel – gerade weil sie sich der symbolischen Sichtbarkeit entziehen.
Daher das modest proposal für Markenmacher*innen: Wer heute Marken entwickelt, sollte auch wissen, wann es klüger ist, keine zu setzen. Die wahre Königsdisziplin der Markenarbeit besteht vielleicht nicht im Sichtbarmachen – sondern im strategischen Schweigen. Ein Charakterzug, der mit dem Selbstbild von Markenmacher*innen bislang kaum in Verbindung gebracht wird.