Urban Villages™. Zur Verwertung des Heterogenen im städtischen Markenraum

A MODEST PROPOSAL
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Die Markenbildung von Städten beruht auf einem grundlegenden Paradox: Sie sucht nach dem Unverwechselbaren – und greift dabei immer häufiger auf das zurück, was sich traditionell der Repräsentation entzogen hat. Es sind die widerspenstigen, inoffiziellen, sozial ungeordneten Orte der Stadt, die immer wieder auch ins Zentrum des urbanen Selbstbilds rücken. Was früher als Slum, Problemviertel oder Subkultur galt, erscheint heute unter neuen Vorzeichen: als „urban village“, als „authentisches Quartier“, als „kreativer Hotspot“. Die ehemals randständigen Orte dienen nun als Träger städtischer Differenz – stilisiert, formatiert, verwertbar gemacht.

Die Aufmerksamkeit für jene städtischen Räume, die heute als „urban villages“ firmieren, reicht weit zurück. Bereits im London des 19. Jahrhunderts beobachteten Sozialreformer wie Henry Mayhew (London Labour and the London Poor, 1851–62) oder der Statistiker Charles Booth (Life and Labour of the People in London, ab 1886) das Leben der städtischen Unterschichten – Verkäufer*innen, Dienstboten, Tagelöhner*innen – und kartierten ihre sozialen Welten. Auch wenn sie noch nicht von urban villages sprachen, dokumentierten sie früh jene dichte soziale Binnenstruktur in städtischen Randlagen, die später in der Stadtforschung eine zentrale Rolle spielen sollte: als Milieu zwischen Nähe, Kontrolle und Stigmatisierung.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlagerte sich der Fokus stadtsoziologischer Forschung zunehmend in die Vereinigten Staaten. Dort wurden sozial segregierte Stadtteile systematisch von Soziolog*innen und Ethnografi*nnen untersucht – etwa von der Chicago School um Robert E. Park und Louis Wirth, die die Großstadt als Raum sozialer Differenz und Segregation analysierten. Mit William Foote Whytes teilnehmender Beobachtung eines italienisch-amerikanischen Viertels in Boston (Street Corner Society, 1943) rückte das soziale Gefüge im Detail in den Fokus. Herbert Gans prägte schließlich mit The Urban Villagers (1962), einer Untersuchung des Stadtteils West End in Boston, nicht nur den Begriff selbst, sondern zeigte exemplarisch, wie in einem vermeintlich „rückständigen“ Viertel ein funktionierendes soziales Leben existierte – bedroht durch Planungsfantasien und Abrisspolitik. Und Jane Jacobs, die im selben Jahr in The Death and Life of Great American Cities das kleinteilige, gemischte Nachbarschaftsleben in New York gegen funktionalistische Stadtplanung verteidigte, wurde zur wohl wirkmächtigsten Stimme einer Stadtpolitik „von unten“.

All diese Arbeiten verstanden sich noch als Gegenwissen – als Kritik an einem Urbanismus, der das Heterogene als Störung betrachtete. Was einst sozialwissenschaftlich randständig war, ist heute zu einem bevorzugten Objekt städtischer Markenstrategien geworden. Was einst ethnografisch untersucht, soziologisch beschrieben und dann – neugierig wie ängstlich – als städtisches Abenteuer entdeckt wurde, fungiert heute als identitätsstiftendes Element im Wettbewerb der Städte. In Reportagen, Führungen und literarischen Selbstversuchen wurde der Gang durch Viertel wie Harlem, die Bronx oder das Berliner Scheunenviertel zur urbanen Mutprobe zwischen Anziehung und Abwehr – ein „Walk on the Wild Side“, wie Rolf Lindner es genannt hat. Die ehemals beobachtete Differenz wird heute strategisch eingesetzt – als Ressource für Narration, Atmosphäre und Unverwechselbarkeit. Die Stadtmarke greift dabei nicht auf die soziale Realität zurück, sondern auf ihre stilisierte Form. Das Urban Village wird zum Zeichen für Urbanität – codiert als kreativ, roh, „authentisch“ – losgelöst von den oft prekären Lebensverhältnissen, die tatsächlich vor Ort herrschen.

Diese Entwicklung folgt einer sehr konkreten Logik. Stadtmarken leben von selektiver Sichtbarkeit: Sie machen sichtbar, was zum gewünschten Profil passt, und lassen verschwinden, was stört. Im globalen Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Investitionen und Talente suchen Städte nach einer eigenen Handschrift – und greifen dabei erstaunlich oft auf das zurück, was früher als Makel galt. Statt ikonischer Hochhaus-Silhouetten oder großer Namen sollen es heute die Mikrogeschichten, Graffiti-Wände, Foodtrucks und Szene-Ateliers richten. Statt Hochglanzarchitektur: das Unfertige. Statt Homogenität: inszenierte Heterogenität.

Diese Aneignung folgt einem bekannten Muster. Zuerst tritt ein Viertel durch künstlerische oder alternative Nutzungen ins öffentliche Bewusstsein – wie etwa Bushwick in Brooklyn, das von einem industriellen Randgebiet zum globalen Sehnsuchtsort für Street Art und kreative Urbanität wurde. Dann entstehen Bilder, Geschichten und Codes, die das Viertel in eine erzählbare Form bringen. Diese Narrative werden schließlich in die offizielle Markenstrategie aufgenommen – als Ausdruck lokaler Authentizität. Aus Alltagskultur wird Image, aus sozialer Eigenlogik kuratierte Atmosphäre. Auch Kreuzberg in Berlin oder – auf ganz eigene Weise – Shimokitazawa in Tokio zeigen, wie kulturell aufgeladene Stadträume zunehmend ästhetisch formatiert und strategisch inszeniert werden – möglichst fotogen, möglichst unbedrohlich.

Dabei kommt es zu einer eigentümlichen Umkehrung. Was einst als Störung galt – das Improvisierte, das Prekäre, das Abweichende –, wird zum Unterscheidungsmerkmal erhoben, allerdings nicht in seiner sozialen Realität, sondern als abstrahierter Stil. In Kapstadts Woodstock etwa wird die Patina verfallender Industriehallen zur Kulisse für Designerläden und Slow-Food-Hallen; die vormals marginalisierte Infrastruktur dient nun der Inszenierung von „Echtheit“. Die migrantische Bäckerei, der improvisierte Straßenmarkt, das Haus mit unverputzter Fassade – alles wird zum Ornament einer neuen Urbanität, die so tut, als wäre sie noch nicht angekommen. Differenz wird zur dekorativen Ressource, zum Zeichen von Weltläufigkeit – global wiederholbar, lokal gefärbt, kapitaltauglich.

Diese Dynamik führt zu einer paradoxerweise standardisierten Diversität: Je mehr Städte das Unverwechselbare inszenieren, desto ähnlicher werden sie sich. Die Figur des „urban village“ wird zur universellen Vorlage – leicht variiert, aber strukturell identisch. In Manchester wird das ehemalige Arbeiterviertel Ancoats als „village in the city“ beworben, während in Shanghai das Viertel Tianzifang mit seinen engen Gassen und alten Shikumen-Häusern als „kreatives Labyrinth“ für westliche Tourist*innen neu erfunden wird. Was als gewachsene, konflikthafte Struktur begann, endet als begehbares Branding.

Stadtmarken leben von Verdichtung, Wiedererkennbarkeit, Emotionalisierung. Doch sie sind keine neutralen Kommunikationsmittel. Sie strukturieren Wahrnehmung, sie definieren Zugehörigkeit, sie entscheiden über Sichtbarkeit. In der Inszenierung des Urban Village™ zeigt sich exemplarisch, wie selektiv die städtische Selbstbeschreibung operiert. Nicht was eine Stadt ist, sondern was sie scheinen will, prägt ihr Bild. Und was sich nicht in Szene setzen lässt, fällt heraus – oder wird passend gemacht.

Was als ethnografische Beobachtung begann – die Aufmerksamkeit für das Soziale im Kleinen, das Gewachsene, das widerständig Eigene – wird so zur Formel im Markenraum der Stadt. Das Urban Village™ ist kein Ort mehr. Es ist ein Zeichen. Eine Dienstleistung. Vor diesem Hintergrund unser modest proposal: Warum nicht gleich den nächsten Schritt gehen und das Urban Village als modularen Exportschlager entwickeln? Ein global einsetzbares Stadtviertel-Kit – vormontiert, durchkalkuliert, emotional aufgeladen. Geliefert mit veganem Streetfood, regengeschützter Graffiti-Fassade, sanftem Verdrängungsdruck und verordneter Diversität. Inklusive Umnutzung ehemaliger Industriebrachen zu „urbanen Labors“ – mit internationalem Leuchtturmcharakter, wie ihn Zürich-West vorgemacht hat: vom Schlachthof zum Szeneviertel, vom Güterbahnhof zur Eventhalle, von der Brache zur Marke. Ein „authenticity-as-a-service“-Paket für alle Städte, die anders sein wollen – aber bitte ohne Risiko. Vielleicht lässt sich das Ganze auch rechtlich schützen: Urban Village™. Coming soon to a city near you.

14. Juli 2025

Dr. Eric Häusler ist Historiker und Urbanist. Sein aktuelles Forschungsprojekt am Insitut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) an der ETH Zürich ist einem Vergleich vergangener urbaner Zukunftsvorstellungen in Tokyo und New York in den 1960er-Jahren gewidmet. Als Gastwissenschaftler war er unter anderem an der Sophia University in Tokyo, an der New School for Social Research und der New York University. Zu seinen weiteren Forschungsschwerpunkten gehören die kritische Auseinandersetzung mit Fragen des Stadtmarketings und das wachsende Feld der Global Urban History.

 

Prof. Dr. Jürgen Häusler ist Honorarprofessor für strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig. Bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 war er Chairman bei Interbrand Central and Eastern Europe, und hat Unternehmen und Organisationen weltweit bei der Entwicklung von Marken beraten. Als Sozialwissenschaftler hat er u.a. am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln gearbeitet.

Kontakt: juergenghaeusler@gmail.com

 

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