ACHSENZEITEN
ACHSENZEIT, diesen Begriff, prägte der bekannte Philosoph Karl Jaspers. Er bezog sich damit explizit auf den historischen Augenblick, in denen sich Grundsätzliches ändert, und die Grundlage für eine neue Epoche gelegt wird. So bestimmte er die SECHZIGERJAHRE als den Beginn einer ACHSENZEIT.
Dieses Jahrzehnt zeichnet sich dadurch aus, als es grundlegende Erkenntnisse der Vorkriegsmoderne durch formale Adaptionen, aber auch deren Weiterentwicklungen aufnimmt. Sie basierten wesentlich, und seitdem weltweit dokumentiert in publizierten Beispielen, auf den Erkenntnissen und Erfahrungen der amerikanischen Magazingestaltung. Ich erinnere hier an TWEN und Willy Fleckhaus - nachfolgend der amerikanischen Werbung - Ich erinnere hier an die in der Bundesrepublik veröffentlichte Anzeigenserie für VW „Es gibt Formen, die man nicht verbessern kann“, entworfen von Doyle, Dane, Bernbach in New York. Sie gründeten auf den Erkenntnissen des Swiss Style, der russischen und europäischen Avantgarde, der gebrauchsgrafisch tätigen Bauhäusler, der Ulmer Schule und dem Programm- und Rasterideologen Karl Gerstner.
Quasi zwillingshaft verbunden waren damit die technischen Fortschritte vom Bleisatz zum Fotosatz zur vollständigen Digitalisierung. Der Siegeszug der Fototechniken, Entwicklungen in Maschinen, Farben und Papieren.
Letztendlich eroberte der Mac die Szene und löste die Lithoanstalten, Schriftgiessereien, aber auch die Layoutsetzereien in ihren Tätigkeiten ab.
Die ACHSENZEIT, hier auf den Beginn der Sechzigerjahre verortet, trifft auf den langsam keimenden Beginn einer Globalisierung, der Individualisierung, einem Kapitalismus, der sich aus den Unternehmen löst, mehr und mehr immaterieller wird, von neuen Ideen und Images lebt.
Karl Jaspers prognostiziert dieser ACHSENZEIT eine Lebensdauer von FÜNF FOLGEJAHRZEHNTEN - damit wären wir im Jahr 2000 angelangt. Dann beginnt eine Entwicklung, die Karl Jaspers, der schon 1969 verstorben ist, nicht ahnen, nicht sehen, nicht voraussagen konnte:
Der Beginn der Digitalisierung Mitte der Achtzigerjahre, die das bisherige, als vornehmlich ausgeübtes Handwerk, sichtlich bröckeln ließ, und insbesondere die Zehnerjahre des neuen Jahrhunderts endgültig und sichtbar den Neuen Medien und deren Erscheinungsformen Geltung verschafften.
Damit sind wir inmitten einer neuen, einer ZWEITEN ACHSENZEIT. In einer momentan sichtbaren und sichtlich seltsamen Vermischung von Erkenntnissen mit denen aus der ERSTEN ACHSENZEIT, die, man kann es unorganisiert nennen, jetzt auf die ZWEITE ACHSENZEIT mit all ihren neuen Anwendungsformen treffen.
Überall brechen jetzt Friktionen auf, die global-digital-rasend-schnelle Wirtschaftswelt, der neue Kapitalismus,die Offenheit von Gesellschaften, all das steht unter Druck.
Somit segeln wir momentan auf einer bewegten, sehr unruhigen See mit gewaltig hohen Wellen und heftigen Brechern, welche die bereits vorhandene, in 5 Jahrzehnten gewachsene Land- und Verfügungsmasse der ERSTEN ACHSENZEIT mit Brachialgewalt trifft.
Wer wird hier getroffen? Wir sind es. Personen, die früher Publikum hiessen, oder die Zuschauer, die Leser, die User, die Empfänger.
Viele sind heute selbst Sender, als Minivideo- und GIF-Produzenten, als Instagram-, Facebook- Onlinekommentatoren, Uploader, Konsumenten-Produzenten-Twitter, sie alle lagern dort draussen, teils durcheinander, teils wie Angehörige verfeindeter Stämme.
Da sind die ganz Jungen, deren Leben als große, bunte Bildschirmzeit verstreicht, die das Smartphone oder Minitablet tagtäglich, stundenlang vor der Nase haben. Da sind die Paare, die mit Netflix ins Bett gehen. Da sind die Heavy User, die News Junkies, Journalisten, Beamte, Politiker, Wissenschaftler, Personen, die jederzeit wissen, wo auf der Welt gerade welche Bombe explodiert und was davon zu halten ist.
Da sind die Kaffeekränzchen, die via Instagram, Fotos von Blumensträusschen teilen. Die Mädchen, die sich ständig beim Sport und beim Schminken abbilden. Da sind die Hassprediger, welche die Welt nur durch die Klobrille betrachten.
Da sind die Fälscher und Verwirrer, die Legenden und Lügen in die Welt setzen, von keiner Instanz geprüft. Und da sind, gern verspottet, aber mächtig, die Alten 70 plus, die kein Smartphone, kein Tablet, kein Internet haben, und die sich sonntags im ZDF bei Rosamunde Pilcher zum Stammtisch finden.
Es treten demnach Fragen auf, auf die niemand befriedigende Antworten weiß: WER macht Twitter-Trends und wie? WELCHEN Wert hat die global umlaufende Währung „Likes“? IST es möglich, im Facebook-Universum berühmt, in der Gesellschaft aber völlig unbedeutend zu sein? SIND eine Million Videoabrufe auf Youtube viel oder wenig? UND macht der derzeitige US-Präsident auf Twitter Politik oder nur Spaß?
Es gibt bei diesen Fragen ohne Antwort nur ein gemeinsames, unbehagliches Thema:
Den Verlust von Wirklichkeit.
Wenn niemand mehr weiß, welchen Status, welche Bedeutung die Äusserung eines US-Präsidenten hat, dann wird die Unberechenbarkeit der Welt sehr bedrohlich.
Darum letztlich ging es dem bekannten Philosophen Habermas in seinem zeitlosen Werk: daß die Gesellschaft vernünftige Regeln für ihre Kommunikation findet. Dass nicht eine Seite der anderen ihre Wahrheit aufzwingen kann, sondern dass Wahrheit in einem gesellschaftlichen Diskurs zustande kommt, an den sich alle rationalen, überprüfbaren Argumente beteiligen, auf der Suche nach einem tragfähigen Konsens.
Man möchte meinen, dass sich die Welt von diesem Ideal kaum je so weit entfernt hätte, wie heute, obwohl sich die Möglichkeiten des Mitredens so dramatisch vervielfältigt haben. Wer sich aber im Internet umtut, findet wenig guten Willen zum Konsens, aber viel böse Lust am Dissens.
Das Netz, einst idealisiert als DIE technische Voraussetzung einer besseren Welt, bevölkert und bespielt von Freien und Gleichen, ist ein Jahrmarkt der Eitelkeiten geworden, eine fantastische Fundgrube, gewiss, aber auch für gedanklichen Sperrmüll aller Art und für Hetzkampagnen, die in früheren Zeiten völlig undenkbar gewesen wären.
In diesen „früheren Zeiten“ waren „die Medien“ mehr oder minder gut funktionierende Filter, die Regeln gehorchten, allgemeingültigen wie selbst gesetzten.
Selbstverständlich war, dass Tatsachenbehauptungen begründbar sein mussten, Fakten überprüfbar, dass es Quellen gab für Zitate, und dass, bei strittigen Themen die Gegenmeinung zumindest angehört werden musste.
Wir müssen, wenn die Gesellschaft weiterhin rational verfasst bleiben will, auf all diese hier aufgeworfenen Fragen und Probleme, Antworten finden.
Es braucht ein paar Regeln. Es braucht Filter, es braucht Maßstäbe, es braucht deren Überprüfung, es braucht im Hintergrund das philosophische Ideal der Wahrheit, und es braucht die praktische Passion für die Wirklichkeit.
J. W. Goethe schrieb vor mehr als 200 Jahren: Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren, einfache, nahe, bestimmte Zwecke vermag er einzusehen ... sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder was er will, noch was er soll.“
(Keynote anlässlich der Vorstellung der Publikation "SCHWARZDENKER" am 13. März 2020 in München)