Underbranding

A MODEST PROPOSAL
[atlasvoice]

Wie das Schweigen der Superreichen den Marken die Stimme raubt.

In Juan S. Guses neuem Buch Tausendmal so viel Geld wie jetzt (Frankfurt am Main 2025) begegnen wir vier Männern – Basti, Arne, Malte und Sebastian –, die „beim Versuch, den Kapitalismus zu dribbeln […] in Krypto gegangen sind“ und zu absurdem Reichtum gelangt sind. Aber statt damit sichtbar zu leben, machen sie daraus vor allem eines: nichts Sichtbares. Keine Luxusuhren, keine auffälligen Autos, keine lauten Markensignale. Einer arbeitet als Friedhofsgärtner, ein anderer lebt zurückgezogen mit einem digitalen Vermögen von 20 Millionen Euro – in Funktionskleidung. Die Marke: vielleicht vorhanden, aber ohne Bedeutung. Das ist nicht Understatement. Das ist Underbranding.

Natürlich kommen (mehrere Dutzende) Marken im Buch vor – „Für immer den Saab“ heißt eine Kapitelüberschrift, und als Markenerlebnis wird ausgeführt: „fährt sich wie ein letzter Besuch bei jemandem, den man liebt.“ Wie sollte man zeitgenössisch „die Welt“ auch beschreiben, ohne Marken zu nennen? Aber sie tauchen nicht als Distinktionsmittel auf, sondern als beiläufiges Inventar.

Guses Buch erzählt von Krypto-Millionären, die das „Handwerk … [der] … Kunst der Spekulation“ beherrschen, die äußerlich unauffällig bleiben – und damit ungewollt die kulturelle Grundlage des Markenwerts untergraben. Programmatisch eint sie ein „Püree aus Liberalismus, Libertarismus, Anarcho-Kapitalismus und technokratischer Utopie“. Sie verachten FUD – also jede Form von Fear, Uncertainty and Doubt – und glauben an WAGMI: We’re All Gonna Make It.

Guse beschreibt diese Männer als „Sleeper“ – äußerlich Durchschnitt, innerlich Vermögenselite. Was dabei zwischen den Zeilen miterzählt wird, ist ein dramatischer Strukturwandel im kulturellen Betriebssystem des Konsums. Denn wenn Marken einst vor allem ein Mittel waren, um soziale Zugehörigkeit, Distinktion oder Hoffnung auszudrücken, dann wirken sie in dieser Welt wie ein nostalgisches Relikt aus einer Zeit, als man seinen Status noch zeigen musste. Eine (im Roman) stille, aber für die Markenwelt folgenreiche Entwicklung.

Seit gut einem Jahrhundert haben Marken in Literatur und Gesellschaft eine zentrale Rolle gespielt – als Symbole sozialer Ordnung, Projektionsflächen individueller Sehnsucht und narrative Marker von Aufstieg und Abgrenzung. Was früher erzählt wurde, bleibt heute stumm. In Guses Welt begegnen wir einem Reichtum, der sich seiner Zeichen entledigt – nicht demonstrativ, sondern beiläufig. Die Marke ist noch da, aber sie spricht nicht mehr.

Genau darin liegt die eigentliche Verschiebung. Wenn Superreiche keine Marken mehr brauchen, warum sollte der Rest von uns ihnen noch folgen? Marken verdanken ihren ökonomischen Wert – zumindest in der Luxusvariante – einer sozialen Dynamik des Aufblickens: Die einen tragen sie, die anderen ahmen nach. Doch wenn an der Spitze nur noch ironischer Verzicht oder bewusstes Underbranding regiert, bricht die Kette. Der Markenwert wird zur leeren Zahl – verbucht im Controlling, aber nicht mehr wirksam im kulturellen Alltag.

Das ist die leise, aber für die Markenwelt desaströse Pointe von Guses Buch: Es dokumentiert nicht nur einen Milieuwandel, sondern eine Absetzbewegung der Superreichen von der Markenwelt. Sie könnten alles kaufen – aber sie kaufen nichts Sichtbares mehr. Und dadurch untergraben sie jenes symbolische Kapital, von dem Marken eigentlich leben – sie unterminieren ihre Funktion als Träger sozialer Bedeutung.

Was im Segment der Luxusmarken beginnt, bleibt nicht dort. Wenn sich ganz oben das Bedürfnis nach Sichtbarkeit auflöst, verliert das gesamte Markenmodell an Schwerkraft. Die Zeichen, die früher Orientierung, Identität oder Zugehörigkeit stifteten, verblassen – zuerst im Hochpreissegment, dann überall. Und vielleicht ist das eine späte Ironie der Markengeschichte: Der Verzicht auf Marken funktioniert nur dort, wo Marken alles durchdrungen haben. Nur wer von Marken umgeben ist, kann so tun, als bräuchte er keine. Die Post-Markenwelt setzt die Markenwelt voraus.

Guse beschreibt als grundlegendes Kernelement der Krypto-Welt den Bedeutungsverlust von Vertrauen: „Zu zahlreich seien [gegenwärtig] die Systeme, die auf den wackligen Beinen des Vertrauens stünden.“ Die Devise lautet: „Don’t trust, verify.“ Doch gerade darin liegt die ironische Tiefe des Romans – denn er erzählt letztlich von der Notwendigkeit neuen Vertrauens: in Technologien, Plattformen, Protokolle – und in die Marken dieser Krypto-Welt. Von Quant bis Chainlink wird Vertrauen nicht abgeschafft, sondern umgewandelt: in neue, technische Formen symbolischer Sicherheit.

Mein modest proposal: Vielleicht sollten Markenmacher*innen in Zukunft weniger Marktforschung betreiben – und mehr kluge zeitgenössische Literatur lesen. Dort steht längst geschrieben, was in den Bilanzen noch nicht auftaucht: Die Powerbrand verliert ihre Stimme – ausgerechnet im Milieu, das sie einst zum Sprechen brachte. Denn kluge zeitgenössische Literatur beobachtet genauer – und ist sensibel für jene vermeintlich schwachen Signale, aus denen sich der große Wandel zusammensetzt. Oder in den Worten des Romanautors: „Weil [das fiktionale Schreiben] ein hochsensibles Werkzeug zur feldanalytischen Decodierung kapitalistischer Machthierarchien ist.“

13. Juni 2025
Ein Beitrag von:

Prof. Dr. Jürgen Häusler ist Honorarprofessor für strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig. Bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 war er Chairman bei Interbrand Central and Eastern Europe, und hat Unternehmen und Organisationen weltweit bei der Entwicklung von Marken beraten. Als Sozialwissenschaftler hat er u.a. am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln gearbeitet.

Kontakt: juergenghaeusler@gmail.com

 

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